23. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Christian Tetzlaff / Brahms & Berg

Christian Tetzlaff / Brahms & Berg
Christian Tetzlaff / Brahms & Berg
Es ist eines jener Alben, die wahrlich nicht alltäglich zu nennen sind. Und das bei gleich zwei Werken, die zum Standard gehören, von denen alle Musikliebhaber:innen in der eigenen Tonträger-Sammlung bereits eine oder mehrere bevorzugte Einspielungen haben. Wie hier aber Christian Tetzlaff die oft gehörten, allzu vertrauten Kompositionen angeht und umsetzt, frappiert noch beim zweiten, dritten und auch vierten Hören. Und nicht zu vergessen und keineswegs in die zweite Reihe zu stellen: das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin unter Robin Ticciati ohne sein Zutun die Interpretation nicht zu denken wäre. Was also ist zu hören? Beim Brahms’schen Violinkonzert handelt es sich um einen Mitschnitt aus der Berliner Philharmonie – akustisch mit betonter Räumlichkeit, als ob man in Block B oder C sitzen würde. Nicht zum Nachteil des Werkes und der Interpretation, aber eben doch in spürbarer (und hörbarer) Entfernung. Im Gegensatz dazu die Studioproduktion des Berg’schen Violinkonzerts: direkt, durchsichtig, in der Klarheit der Stimmen fast kammermusikalisch und unmittelbar ansprechend. Man darf also bei B & B nicht von identischen Konstellationen ausgehen.

Faszinierend ist die Art und Weise, wie die Partituren umgesetzt werden – fast so, das hätten Solist, Orchester und Dirigent in den vergangenen Jahren an nichts anderem gearbeitet. Die Einspielung strahlt eine gestalterische Souveränität aus, wie sie nur selten begegnet. Das betrifft bei Brahms das Oboen-Solo genauso wie das sinfonische Tutti, bei Berg den hier wunderbar «lesenden», gar nicht lärmenden Beginn des zweiten Satzes – als ob auf allen Pulten die ganze Partitur liegen würde. Ich bin mir nicht sicher, ob eine solche Verbindung von Präzision und Ausdruck schon einmal für die Gegenwart und Nachwelt festgehalten wurde (Isaak Stern und Leonard Bernstein haben es 1959 auf ganz eigene Weise mit der damals limitierten Technik getan). Es ist freilich auch das Privileg einer genau ausgehörten Studioproduktion, in der innere, gänzlich unprätentiöse Intensität mit der äußeren Plastizität in der Breite und Tiefe verschmelzen zu können. So fasziniert dieses Album mit jeder Phrase erneut. Eine Einspielung «für die Insel».

Johannes Brahms. Violinkonzert D-Dur op. 77; Alban Berg. Violinkonzert «Dem Andenken eines Engels» (1935)
Christian Tetzlaff (Violine), Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Robin Ticciati

Ondine ODE 1410-2 (2021/22)

 

HörBar<< Sonoko Miriam Welde / Bruch & Co.

Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 5 von 5 in Michael Kubes HörBar #107 – Violinkonzerte