4. Oktober 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Winterreise / Joyce DiDonato

Winterreise / Joyce DiDonato
Winterreise / Joyce DiDonato
Eine wirklich relevante Frage stellt Joyce DiDonato: «Aber was ist mit ihr?» Ihr bald folgender Verweis auf Charlotte in Goethes Werther (auch hier bleibt alles weitere unklar) mag nahe liegen – aber so richtig will all das nicht aufgehen. Natürlich sollte Schuberts Winterreise allen weiblichen Stimmen nicht verwehrt bleiben – das Setup aber sollte man sich nicht unnötig verkrampfen. Denn warum sollte der einsame Wanderer im 21. Jahrhundert nicht auch eine Wanderin sein? Dann muss man auch nichts umständlich spiegeln, fasste doch Wilhelm Müller eine menschlich universelle Gefühlswelt in Worte. Doch darauf sollte bei dieser Einspielung nicht der Fokus liegen – denn noch immer geht es um eine angemessene Interpretation im Vortrag.

Doch genau dort darf man, muss man sich reiben. Wo andere für einige Tage ins Studio gehen, hat in diesem Fall ein einziges Konzert gereicht: Für den Mitschnitt vom 15. Dezember 2019 reichte es aus, ein paar Mikrophone mehr in die Carnegie Hall zu hängen. Gewonnen wird damit eine gewisse Unmittelbarkeit, verloren gegangen ist damit aber eine nachhörende Kontrolle – gerade wenn es um eines der wahren «Meisterwerke» geht, von der die DiDonato im Booklet so emphatisch spricht. So aber hört man nicht nur gelegentliches Husten und Rascheln, sondern auch Unebenheiten in der Gestaltung – stimmlich, farblich, vor allem aber in der Aussprache, die seltsam manieriert und damit in ihrer aufgesetzten Emotionalität befremdlich wirkt. Es ist ohnehin die durchgehend extrovertierte, nicht selten gar opernhafte Gestaltung (irritierend im Irrlicht), die der Erzählung ihre eigene, tiefe und perspektivenreiche Fiebrigkeit nimmt. Yannick Nézet-Séguin erweist sich (hier einmal ohne Taktstock) als aufmerksamer Begleiter – er regte die Einspielung überhaupt erst an –, vermag aber mit seinem korrekt-klaren Spiel und allzu bildhaften Verdeutlichungen nicht wirklich zu überzeugen: Für die Imagination des Hörers bleibt da kein Platz.

Franz Schubert. Winterreise D 911
Joyce DiDonato (Mezzo), Yannick Nézet-Séguin (Klavier)

Erato 0190295284145 (2019)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 3 von 5 in Michael Kubes HörBar #078 – Winterreise