23. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Franz Schmidt / Jonathan Berman

Franz Schmidt / Jonathan Berman
Franz Schmidt / Jonathan Berman
Kommt nun seine Zeit? Jedenfalls ist es auffällig, dass nach nur drei Jahren bereits die nächste Gesamteinspielung aller vier Sinfonien von Franz Schmidt (1874–1939) in einer Box erscheint. Aber ach – der aufmerksamen Leserschaft wird es anhand der Lebensdaten wohl kaum entgangen sein, dass heuer (allerdings erst am 22. Dezember) der 150. Geburtstag des Komponisten ins Haus steht. Ein Glücksfall, lässt sich doch so vom Repertoire her das Jubeljahr des meist als eher unbequem empfundenen Schönberg kompensieren – und dies nicht nur mit dem unvermeidlichen Zwischenspiel aus «Notre Dame» oder dem Buch mit sieben Siegeln, sondern auch sinfonische: Ich erinnere mich jedenfalls noch gut an meine erste, unzeitgemäße Begegnung mit der Musik von Franz Schmidt, natürlich mit der Sinfonie Nr. 4, auf einer älteren LP. Das eröffnende Trompetensolo machte sofort neugierig, und diese Neugier ist bis heute geblieben.

Denn Schmidt gelang an der Wende zum 20. Jahrhundert und darüber hinaus das Kunststück, die «Altdeutsche» mit der Neudeutschen Schule zu versöhnen. Seine formal ausgewogen disponierte, kontrapunktisch durchgearbeitete Sinfonik kann nicht ohne Brahms gedacht werden – und doch hört man in zahllosen Gesten und der sich mächtig gebenden Harmonik viel Wagner und Strauss. Auch seine an Farben so reiche Instrumentation ist hier zuhause, zugleich hört man allerdings wie bei Bruckner den Organisten seine Register ziehen und Klangblöcke setzen. Pure Süffigkeit geht den Sinfonien ab, man muss sie sich ein wenig erarbeiten, aber sie machen es einem durch ihren klaren Aufbau nicht schwer. Und hier kommt dann die bemerkenswert unbeschwerte, fast musikantische Interpretation von Jonathan Berman ins Spiel, der die Partituren nicht mit dem fahlen Glanz einer untergehenden bzw. schon untergegangenen aristokratischen Epoche überzieht, sondern sie erstaunlich frisch, in weiten Teilen gar unbeschwert realisiert. Wer einen satten Sound erwartet, wird vermutlich enttäuscht werden. Wer aber das schöpferische Potenzial in Schmidts Sinfonien erkunden will, findet hier einen hell ausgeleuchteten Pfad.

Franz Schmidt. Sinfonie Nr. 1 E-Dur (1896–1899); Sinfonie Nr. 2 Es-Dur (1911–1913); Sinfonie Nr. 3 A-Dur (1927/28); Sinfonie Nr. 4 C-Dur (1932/33); Intermezzo und Karnevalsmusik aus «Notre Dame» (1902–1904)
BBC National Orchestra of Wales, Jonathan Berman

Accentus ACC 80544 (2020–2022)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 1 von 5 in Michael Kubes HörBar #108 – Sinfonisches