20. April 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Berliner Philharmoniker / Kirill Petrenko

Berliner Philharmoniker / Kirill Petrenko
Berliner Philharmoniker / Kirill Petrenko

«Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne…» So oder ähnlich lässt sich ein erstes Resümee über die Zusammenarbeit der Berliner Philharmoniker mit ihrem neuen Chefdirigenten Kirill Petrenko ziehen. Dabei ist freilich zu bedenken: Zwischen der ersten Begegnung (2006), der (überraschenden?) Wahl (2015) und der Inaugurierung (2019) liegen einige Jahre der gegenseitigen Annäherung. Einen Teil dieser ersten Etappe dokumentiert nun eine gewohnt luxuriös ausgestattete Box des orchestereigenen Labels mit fünf CDs und zwei ergänzenden Blu-Ray Discs, die alles nochmals als Pure Audio und im Concert Video enthalten, erweitert durch ein knapp einstündiges Interview. Abgerundet wird die Produktion durch ein umfangreiches, sauber eingeklebtes Booklet, das man eher als «book» ansprechen sollte, auch weil hier neben knappen Werkeinführungen zwei Essays die Perspektive auf das Phänomen «Sinfonie» erweitern. Allerdings: Sowohl der nach oben aufklappbare CD-Schuber als auch das Querformat machen die Lektüre unbequem und nur «schwer» in den Händen zu halten.

Die zwischen 2012 und 2019 mitgeschnittenen Interpretationen sind atmosphärisch äußerst dicht gestaltet, sie atmen eine Wärme, die ich unter Simon Rattle auch live nie erlebt habe. Doch zeigen die Einspielungen bemerkenswerte Unterschiede: Beethovens Siebte (2018) etwa wirkt geradezu rauschhaft mitreißend aus der Mitte des Klangkörpers heraus – auch auf die Gefahr hin, dass bei einer gewissen Basslastigkeit das mitunter dichte Stimmengeflecht verschwimmt; die einzelnen Sätze folgen nach nur knapper Pause nahezu attacca. Die Neunte (2019) überrascht durch ihre Schlankheit bei deutlicher Präsenz der Bläser. Dass hier die Akzente nicht knallen, sondern sehr bewusst gestaltet werden (mehr als fp denn als fz), dürfte auch die neuere Aufführungspraxis der letzten Jahrzehnte spiegeln. Frisch im Zugriff, zugleich mit einem Augenmerk auf die kantable, aber auch fragend-brüchige Gestaltung der melodischen Linien, drückt dieser Zugriff noch das Suchen nach einem gemeinsamen Tonfall aus, der auf dem erstklassigen Spiel der Philharmoniker aufbaut.

Wohin die weitere Reise gehen kann, macht vor allem Tschaikowskys Fünfte klar (2019), die hier weder mit süßem Zuckerguss noch schleppendem Trauerflor gespielt wird und so eine wundervoll ergreifende Grandiosität erlangt – mehr übrigens als die «Pathétique» (2017), die zwar ungleich geschlossener wirkt, aber weniger Spannung entwickelt. Einen schönen Ausblick auf hoffentlich auch zukünftig anstehende, von der Hand des Chefs geführte Repertoire-Erweiterungen bieten schließlich die unerhört eigene, spätromantische Sinfonie Nr. 4 von Franz Schmidt (2018) sowie die nur wenige Monate vor dem Ersten Weltkrieg entstandene «Musik für Orchester» des fast vergessenen Rudi Stephan (2012). – Wie man wohl in ein paar Jahren auf diese Box zurückschauen wird, die so zahlreiche Versprechungen in sich birgt?


Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 7 A-Dur op. 92; Sinfonie Nr. 9 d-Moll op. 125; Peter Tschaikowsky: Sinfonie Nr. 5 e-Moll op. 64, Sinfonie h-Moll op. 74 «Pathétique»; Franz Schmidt: Sinfonie Nr. 4 C-Dur (1932/33); Rudi Stephan. Musik für Orchester (1912)

Marlis Petersen (Sopran), Elisabeth Kulman (Alt), Benjamin Bruns (Tenor), Kwangchul Youn (Bass), Rundfunkchor Berlin, Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko

BPHR 200351 (2012–2019)

 

 

 

 

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