23. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Habbestad / Quattro stazioni

Habbestad / Quattro stazioni
Habbestad / Quattro stazioni
Die Gleiskreuzung des Covers lässt verschiedene Assoziationen aufkommen. Etwa an das oft nur kurze Überschneiden von Wegen, die dann wieder zügig auseinanderlaufen (das kennt wohl jeder aus der eigenen Biographie), oder tatsächlich an ein so genanntes Gleisvorfeld. (Wer kein regelmäßiger Zug-Reisender ist: Das ist die Strecke vor einem Bahnhof, während der es immer ruckelt und man vor den Türen hin und her geworfen wird, bis endlich der angezeigte Bahnsteig erreicht ist). Der norwegische Komponist Kjell Habbestad (geb. 1955) nimmt es nicht so wörtlich (kein Wunder, das Streckennetz seiner Heimat ist recht übersichtlich), sondern im übertragenen Sinne: Er bezieht in seinem sehr lesenwerten und mit offenen Karten spielenden Booklet-Essay das Bild auf die vier hier eingespielten Werke als Stationen einer Reise in der musikalischen Entwicklung, aber eben auch auf den Untertitel seines ersten Streichquartetts (1989), in dem er satzweise auf Melodien aus Holon (Israel), Rom (Italien), Kirkwall (Orkney-Inseln) und Vassenden (Norwegen) zurückgreift und die Komposition entsprechend charakteristisch entwickelt.

Entsprechend hat Habbestad erst gar nicht den Versuch unternommen, sich bei der zentraleuropäischen Avantgarde anzubiedern. Seine eindrückliche Musik entfaltet sich eher in einer freien tonalen Weise, die an die Wende zum 20. Jahrhundert denken lässt – nicht nur in der konkreten Ausarbeitung, sondern auch in der ästhetischen Idee. So legte er seinem zweiten Streichquartett zunächst Texte zugrunde, um diese anschließend (vorerst) wieder zu vergessen. Wer denkt da nicht an die Verklärte Nacht, die Dehmels Versen so nah ist, dass man die Partitur auch losgelöst von den Worten versteht? Dass sich Habbestad später dann doch zu den Versen bekannte – geschenkt! Ähnlich verhält es sich mit der Air d’été suédois (2009) für Klarinettenquintett. Wer die am Anfang stehenden Verse nicht gelesen hat, verpasst möglicherweise einige Aspekte der Kompositionen, gewinnt aber ganz andere Einsichten. – Nachdem es in den vergangenen Jahren um das Vertavo Quartett seltsam still geworden war, mutet dieses Album wie ein Neustart in vertrauter Besetzung an. Die hochklassigen Interpretationen dieser bemerkenswerten und bemerkenswert schönen Werke fühlen sich an wie ein Versprechen auf hoffentlich weitere Produktionen – bitte dann auch von ähnlich nachhörbarer Musik. Kjell Habbestad selbst versteht es mit seinen musikalisch durchgearbeiteten Partituren, die Ohren nicht nur kurzfristig aufzurichten.

Kjell Habbestad. Quattro stazioni
String Quartet No. 1 op. 21 «Quattro stazioni» (1989); String Quartet No. 2 op. 91 (2013); Air d’été suédois op. 85 (2009); Divertimento op. 86 (2010)
Vertavo String Quartet, Björn Nyman (Klarinette), Sveinung Bjelland (Klavier)

Lawo LWC 1193 (2018/19)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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