Seine «Italienische» wie auch die «Schottische» gehören zwar zum Werkkanon der romantischen Sinfonik, dennoch hängen Neueinspielungen nicht wie Äpfel an den Bäumen. Dabei scheinen doch eigentlich seit Jahrzehnten die Folgen der antisemitisch geprägten Mendelssohn-Rezeption überwunden – mehr noch: Sein Œuvre als Ganzes wird hoch geschätzt; im Streichquartett ebenso wie im Chor, im Orchester wie am Klavier. Vielleicht ist es aber auch die Musik selbst, die Zurückhaltung bedingt, denn die Partituren verbitten sich jede Art von Routine. Dazu gehen die technischen Anforderungen nicht leicht genug von der Hand, und eine gute Interpretation erfordert nicht nur den Ausgleich zwischen luftiger Leichtigkeit und nachsinnendem Gewicht, sondern auch eine aufmerksame Balance zwischen Streichern und Bläsern.
Umso überraschender ist es, dass nun eine Neueinspielung von zweien dieser Sinfonien aus Frankreich kommt – überdies mit einem auf «Leipzig 1830» ausgerichteten Instrumentarium. Und was das Orchester Les Ambassadeurs – La Grand Écurie unter der Leitung von Alexis Kossenko in die Mikrophone gezaubert hat, ist nicht bloß interessant, sondern spektakulär. Einen so samtigen Einstieg in die «Italienische» habe ich lange nicht gehört. In den weiteren Sätzen zeigt sich zudem in Mendelssohns eigener (unvollendeter) Überarbeitung ein Hang zur Verdichtung aber auch zur Abschattierung. Frische und Dynamik prägt auch die 1829 entstandene «Reformations»-Sinfonie, deren hohe Opuszahl über die wahre Entstehungszeit hinwegtäuscht. Was hier kurz nach Beethoven und Schubert entstanden ist, weist in ganze neue stilistische Richtungen – und wird auf diesem Album auch so realisiert: klanglich-dramatisch (Posaunen!), in originaler Gestalt (das instrumentale Rezitativ vor dem Finale), vor allem aber durch eine sehr lebendige Deutung. Erfreulich, dass dies der Auftakt zu mehr sein soll.
Felix Mendelssohn Bartholdy. Sinfonie Nr. 4 a-Moll op. 90 MWV N 16 «Italienische» (2. Fassung von 1834), Sinfonie Nr. 5 d-Moll op. 107 MWV N 15 (Fassung von 1829)
Les Ambassadeurs – La Grand Écurie, Alexis Kossenko
Aparté AP 315 (2022)