23. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Bartók / Krenek / Toch / Weill

Bartók / Krenek / Toch / Weill
Bartók / Krenek / Toch / Weill
Ein Album, das so vielleicht nur von einem Rundfunkorchester selbst produziert werden kann. Denn hier stehen nicht die Interpreten im Vordergrund, sondern die Werkauswahl und damit auch das Konzept. Natürlich erlaubt es die digitale Welt, solch eine «gemischte» Produktion durch gutes Tagging leicht zugänglich zu machen – man muss sie nur mit einer (funktionierenden) Suchoption auch finden. Hier wiederholt sich dann (nur etwas unübersichtlicher) das Prozedere aus analogen Zeiten, als es noch gut sortierte Schallplattenhändler in allen größeren Städten gab: Am liebsten waren mir dort im Regal hinter den großen Komponisten von A bis Z immer die Reiter «Sonstige» oder «Varia» – hier fand man die Schätze des Repertoires, vor denen die meisten Labels zurückschreckten. Ein Repertoire-Manager gestand mir damals einmal frei heraus, dass sich Alben mit Werken von mehr als zwei Komponisten aus diesem sortiertechnischen Grund eigentlich nicht verkaufen ließen und daher auch nicht produziert würden, Konzept hin, Konzept her.

Umso spannender ist es, breit gefächert in das Jahr 1923 einzutauchen – hier mit Werken von insgesamt vier Komponisten, präsentiert vom Symphonieorchester und dem Chor des Bayerischen Rundfunks in der bisher nur mit Überraschungen aufwartenden Serie Der wilde Sound der 20er, der ich (das sei gleich gesagt) noch viele Fortsetzungen wünsche. Unterschiedlicher kann man sich – auch von der Besetzung her – die Partituren kaum denken: Da wäre zunächst die ganz den Puls der Zeit aufnehmende Tanz-Suite op. 30 von Ernst Toch, die im ersten Satz auffällig nach Hindemith klingt, dann aber rasch zu sich selbst findet – und beim Tanz eher abstrakt als «jazzig» wird. Zudem: Wo könnte man heute noch ein neues Werk für Flöte, Klarinette, Violine, Viola, Kontrabass und Schlagzeug hören? Es folgt der Frauentanz op. 10 von Kurt Weill in einer ähnlich singulären Formation mit Sopran, Flöte, Viola, Klarinette, Horn und Fagott – sieben Miniaturen, die im Tonfall überraschen (vor allem der exponierte Viola-Part). Geradezu hinreißend sind die drei gemischten Chöre a cappella op. 22 von Ernst Krenek gesetzt; nach Texten von Matthias Claudius und noch deutlich in der spätromantischen Tradition stehend. Eine wirkliche Entdeckung und jedem leistungsstarken Chor dringend empfohlen! Am Ende des Albums steht (fast zyklisch gedacht) die Tanz-Suite von Béla Bartók – ein Werk, dass auf sehr einfallsreiche, fast geniale Weise «moderne» Strömungen durch einen volksmusikalischen Einschlag in Melodik und Rhythmus transzendiert. – Cristian Macelaru (Orchester) und Howard Arman (Chor) setzen die Werke markant und auf hohem Niveau um. Ob bei den Tanzsuiten am Ende die freche Radikalität fehlt, ist eine Frage der Perspektive. Vielleicht erwartet man 2023 mehr als die Zeitgenossen von 1923.

1923
Ernst Toch. Tanz-Suite op. 30; Kurt Weill. Frauentanz op. 10; Ernst Krenek. Drei gemischte Chöre a cappella op. 22; Béla Bartók. Tanz-Suite Sz 77
Chor des Bayerischen Rundfunks, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Howard Arman, Cristian Macelaru

BRKlassik 9002006 (2017, 2021, 2022)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 4 von 5 in Michael Kubes HörBar #104 – 1923