15. Oktober 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

André Caplet / 1923

André Caplet / 1923
André Caplet / 1923
Dass 1923 nicht allein das Jahr des Aufbruchs für die angeblich «goldenen» 20er Jahre war, lehrt der Blick in die Geschichtsbücher. Es war ein Jahr, das in jener Dekade erstmals den Abgrund sichbar machte – einen Abgrund, der im Folgenden umso lauter weggejazzt und übertanzt werden sollte; man denkt sofort an die mittlere Tafel des 1927/28 entstandenen Großstadt-Triptychons von Otto Dix mit Jazzband und Shimmy-Tänzern. Weniger bekannt sind die dunkleren Seitentafeln mit ihren Straßenszenen, allzu «leichten» Frauen und Kriegsversehrten. Wer bei dem vorliegenden Album ein weiteres Mal den «wilden Sound der 20er» erwartet, liegt jedoch falsch. Vielmehr wird mit dem Mysterienspiel Le Miroir de Jesus von André Caplet (1878–1925) beispielhaft auf all jene Komponisten verwiesen, über deren Biographie der Erste Weltkrieg einen langen Schatten warf. Bei Caplet war es ein Giftgasangriff, der seine Lungen ruinierte und ihn körperlich extrem schwächte.

Bei Le Miroir de Jesus (1923) handelt es sich um die letzte große Partitur aus seiner Feder, im Untertitel als Mysterien des Rosenkranzes bezeichnet. Sie ist mit Mezzosopran, Frauenchor, Streichorchester und Harfe alles andere als konventionell besetzt – und gehört allein schon durch die geistliche Ausrichtung des Textes zu den Raritäten des Repertoires. Basierend auf einer Dichtung von Henri Ghéron wird Jesu Leben und Leiden aus Sicht der Jungfrau Maria (Mezzo) erzählt, vom Chor durch ein Exordium eingeleitet und durch kurze Zitate oder ein Halleluja kommentiert. Stilistisch steht das Werk eher bei Debussy als bei Arthur Honegger, und es erweist sich als überaus faszinierend und einzigartig. – Bereits vor vier Jahren live mitgeschnitten, zeigen Aufnahme und Veröffentlichung geradezu beispielhaft die Dringlichkeit der Bewahrung der bestehenden Ensemblevielfalt im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und des damit verbundenen kulturellen Auftrags. Dieses Album surft wahrlich nicht auf einer Mainstream-Welle. «1923» kann auch anders klingen.

André Caplet. Le Miroir de Jesus
Anke Vondung (Mezzo), Chor des Bayerischen Rundfunks, Münchner Rundfunkorchester, Howard Arman

BRKlassik 900342 (2019)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 2 von 5 in Michael Kubes HörBar #104 – 1923