23. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Sorabji / 100 Transcendental Studies

Sorabji / 100 Transcendental Studies
Sorabji / 100 Transcendental Studies

Es ist bei weitem nicht das einzige Werk enzyklopädischen Ausmaßes, das Kaikhosru Sorabji (1892–1988) in seinem langen Leben geschrieben hat. Erst jetzt und sehr langsam werden diese Kompositionen (nicht: wieder) entdeckt – wegen des immensen technischen Anspruchs wie auch des jede Aufführung sprengenden Umfangs. Die provisorische Werkliste bietet einen ganzen Fundus an ungehobenen Schätzen aus den Jahren zwischen 1914 und 1991; vor allem für Klavier solo oder mit Orchester, aber auch Kammermusik, Werke für Orgel und Vokales. Seit etwa Mitte der 1930er Jahren lebte und arbeitete Sorabji in London und im Süden Englands so abgeschieden und außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung, dass über ihn die kuriosesten Gerüchte und Geschichten in die Welt gesetzt werden konnten. Manches davon wurde vom Komponisten selbst dankbar aufgenommen, anderes erschien schon den Zeitgenossen suspekt. Nun gilt es die eigentliche Biographie frei zu schälen und die Werke selbst zu befragen.

Dass Sorabji ganz eigenständig komponierte, sein Stil und seine Grammatik als Solitäre auf weiter Flur stehen, mag dabei kaum überraschen, ebenso wenig, dass er selbst zwar Aufführungen nie gänzlich untersagte, allerdings genau über die Freigabe seiner Notentexte und die Interpreten wachte. Denn die Stücke stellen erhebliche Herausforderungen an eine gelungene Deutung, vor allem konditionell – auch im Tonstudio. Die 100 Transcendental Studies für Klavier umfassen beispielsweise acht Stunden Spielzeit; Fredrik Ullén hat sie in einem anderthalb Jahrzehnte in Anspruch nehmenden Mammutprojekt in sechs Folgen eingespielt. Doch was zunächst überschaubar begann, weitete sich mehr und mehr aus: Die beiden letzten Studies nehmen allein 70 Minuten in Anspruch; einer Quasi Fantasia (mit deutlichen Rückbezügen auf Bachs Chromatische Fantasie BWV 903) folgt eine Fuga a cinque soggetti, die (wenn auch nicht in allen Bereichen) Busonis legendäre Fantasia contrappuntistica (1910) den Platz streitig macht. Ullén jedenfalls bewahrt bis zum letzten Akkord die Übersicht und stellt sein beeindruckendes pianistisches Vermögen ganz in den Dienst des Werkes – und zwar in einer Weise, die ihn selbst ehrt. Die Einspielung ist daher im Einzelnen wie im Ganzen schlichtweg eine Meisterleistung aller Beteiligten, einschließlich des wagemutigen Labels. Respekt!

Nach fünf Jahren Hörbar eine kleine Feierstunde mit Rückblicken. In der Folge #100 stehen Alben und Werke im Mittelpunkt, die sich auf ganz eigene Weise explizit der „Einhundert“ widmen. Nicht alles ist dabei brandneu (das liegt oft genug in der Natur der Sache) – und doch ist jede Scheibe nach wie vor lieferbar.


Kaikhosru Sorabji. 100 Transcendental Studies, Nr. 84–100
Fredrik Ullén (Klavier)

BIS-2433 (2019)

HörBar<< Telemann / 100 MenuetteMartinsson / op. 100 >>

Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

    Alle Beiträge ansehen
hoerbar_nmz

Der HörBar-Newsletter.

Tragen Sie sich ein, um immer über die neueste Rezension informiert zu werden.

DSGVO-Abfrage*

Wir senden keinen Spam! Erfahre mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Teil 3 von 5 in Michael Kubes HörBar #100 – Hörbar100