23. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Kalinnikow / Mihkel Kütson

Kalinnikow / Mihkel Kütson
Kalinnikow / Mihkel Kütson
Nicht für jeden wird absehbar der Weg an den Niederrhein nach Krefeld oder Mönchengladbach führen. Und so kommt das Orchester der beiden Städte zu uns nach Hause – jedenfalls mit der dritten Folge einer anhaltend spannenden Expedition durch die russische Sinfonik der Jahrhundertwende, mithin Partituren, die weniger in der Nachfolge als vielmehr im Schatten Tschaikowskys stehen. Nach Alben mit Musik von Glazunow (u. a. Sinfonie Nr. 7) und Balakirew (u. a. Sinfonie Nr. 2) ist nun also Vasily Kalinnikow (1866–1901) an der Reihe – ein Komponist, den man wohl kaum dem Namen nach kennt, der aber sowohl von seiner Biographie her wie auch wegen seines recht eigenständigen (allerdings nicht progressiven) Tons ein «Hinhörer» ist.

Biographisch, weil Vasily Kalinnikow (wie sein ebenfalls komponierender jüngerer Bruder Viktor) aus einem kleinstbürgerlichen Umfeld stammt, sein musikalisches Talent aber dennoch entdeckt wurde. Entbehrungsreiche Jahre nahm er in Moskau für seine Entwicklung als Komponist und Dirigent in Kauf; Tschaikowsky vermittelte ihm eine kleine Anstellung, Rachmaninow später einen Verleger. Gesundheitlich stark angegriffen, verstarb Vasily Kalinnikow schließlich (wie auch andere Komponisten seiner Generation in ganz Europa) viel zu früh an Tuberkulose. Deutlich hörbar ist seine melodische Anbindung an das Volkslied ebenso wie sein Hang zu groß angelegten Verläufen. Vielleicht entfaltet sich der unglaublich jetztzeitig wirkende zweite Satz aus seiner Sinfonie Nr. 1 noch zu einem Geheimtipp (als cross-over aus Klassik, dunkler Filmmusik und easy listening) – wirklich wunderschön und verblüffend! Kommt der sehr klare, fast sachliche Klang der Einspielung dem Ausdruck der Komposition zugute, so bleibt der Kopfsatz ohne sinfonischen Drang. Dass die Partitur in dieser Hinsicht alles fordert, zeigen die Vergleichseinspielungen: die eine seltsam verschwommen (Neeme Järvi, Chandos), die andere eher leicht überhastet (Bakles, BIS), eine dritte indifferent (Kuchar, Naxos) – und selbst die sehr engagierte, mehr als 60 Jahre alte Produktion unter Kirill Kondrashin wirkt nicht wie aus einem Guss. Gerade deshalb haben das Werk und sein Komponist mehr Aufmerksamkeit verdient. Die sinfonische Dichtung «Zeder und Palme» wie auch die beiden Intermezzi bestätigen jedenfalls den starken Eindruck einer bemerkenswerten Etappe auf einem Abenteuer durch das Repertoire, das gerne weiter fortgesetzt werden kann.

Vasily Kalinnikow. Le Cèdre et le Palmier; Sinfonie Nr. 1 g-Moll; Serenade für Streicher g-Moll; Intermezzo Nr. 1 fis-Moll; Intermezzo Nr. 2 G-Dur
Niederrheinische Sinfoniker, Mihkel Kütson

MDG 952 2240-5 (2021)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 1 von 5 in Michael Kubes HörBar #098 – Sinfonisches