6. Dezember 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Tubin / Paavo Järvi

Tubin / Paavo Järvi
Tubin / Paavo Järvi
Das Estonian Festival Orchestra unter der Leitung von Paavo Järvi ist schon lange keine unbekannte Größe mehr. Beim französischen Label Alpha ist nun schon die vierte Produktion herausgekommen – und wieder ist es ein überaus zielsicherer Griff ins Repertoire, der dieses Album besonders werden lässt. Mit zwei Werken steht das Schaffen des estnischen Komponisten Eduard Tubin (1905–1982) im Zentrum, flankiert durch zwei herausragende Werke aus Polen von Grażyna Bacewicz (Concerto, 1948) und Witold Lutosławski (Musique funèbre, 1958) für Streichorchester. Ein dramaturgischer Coup, der zudem die wunderbare Trauermusik von Lutosławski wieder präsent macht.

Namensgebend für das Album ist die von Tubin selbst arrangierte dreisätzige Suite aus dem Ballett Kratt (Kobold). Noch 1943 unter deutscher Besatzung in Tartu (Estland) uraufgeführt, ging die Partitur bei einem russischen Bombenangriff verloren, als auch das Opernhaus zerstört wurde (Tubin konnte das Werk in seinem späteren schwedischen Exil mit Hilfe der erhalten gebliebenen Stimmen und des Klavierauszugs wiederherstellen). Saftige Rhythmen und flächige Anlage mit vielfachen Rückgriffen auf Melodien der Volksmusik geben eine gute Vorstellung davon, wie hier ein ganz eigenes musikalisches Fundament tänzerisch auf die Bühne gebracht wurde (ein paar Strawinsky-Allusionen sind fraglos auch dabei). Knapp 2/3 des Albums bleiben den Streichern vorbehalten, die sich aber nicht weniger intensiv mit den Kompositionen auseinandersetzen, vor allem aber der Musique funèbre eine ganz eigene, baltisch anmutende Farbigkeit verleihen – eine sehr interessante Hörerfahrung gegenüber geläufigen älteren Einspielungen. Am Ende entscheidet das Booklet darüber, ob es wirklich eine in jeder Weise «gründliche» Produktion ist. Leider nicht, denn Lutosławski erhielt 1954 zwar einen Kompositionsauftrag für ein Werk zur Erinnerung an den 10. Todestag von Béla Bartók, die allerdings erst 1958 (!) abgeschlossene Partitur konnte so aber gar nicht «anlässlich des zehnten Todestages (1955) uraufgeführt» werden. Gute, fachlich fundierte Übersetzungen sollten auch den Inhalt mitbedenken.

Eduard Tubin. Kratt (Ballettsuite), Music for Strings; Grażyna Bacewicz. Concerto for String Orchestra; Witold Lutosławski. Musique funèbre
Estonian Festival Orchestra, Paavo Järvi

Alpha ALP 1006 (2021)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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