6. Dezember 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Henze / Marco Minà

Henze / Marco Minà
Henze / Marco Minà
Fast zwei Dutzend Aufnahmen von Hans Werner Henzes zweiteiliger Royal Winter Music lassen sich diskographisch recherchieren. Zudem scheinen die von Julian Bream und Reinbert Evers herausgegebenen Ausgaben der beiden Sonaten einen gesicherten Notentext zu besitzen – schließlich haben hier die Interpreten der jeweiligen Uraufführung ihre Erfahrungen mit eingebracht. Denkste! – wird man nach der Lektüre des Booklets laut ausrufen. Denn die beiden ersten Musiker haben nicht nur Fingersätze eingetragen, sondern auch in den Notentext mehr oder weniger stark eingegriffen, so dass manche Sätze eine andere Gestalt annahmen – und mit dieser dann ebenso die von Henze musikalisch portraitierten Protagonisten aus Shakespears Dramen. Zudem geht in der ersten Sonate nun jedem Satz ein offenbar nicht letztgültig kassiertes Ritornello voraus und schafft beim Hören fühlbar Distanz und neuen Raum für das Nachfolgende. Auch der Schott-Verlag hat inzwischen darauf reagiert und eine Neuausgabe präsentiert – diesmal herausgegeben von Marco Minà, der für den parallel zur Einspielung erschienenen Druck alle Quellen eingehend konsultiert und verglichen hat.

Tatsächlich gliedert das eingefügte Ritornello auf gut nachvollziehbare Weise die sechs Sätze umfassende Sonate. Sodann verblüfft der nun deutlich radikalere Beginn von Gloucester mit einem den Klangraum schneidend scharf durchbrechenden Bartók-Pizzicato. Ob allerdings die Einspielung dem revidierten Notentext entsprechend eine maßgebliche Sicht auf die Royal Winter Music eröffnet, ist fraglich. Zwar verfügt Marco Minà über eine durch und durch profunde Technik und versteht, die Verläufe und Charaktere zu gestalten. Mir rückt die Einspielung allerdings das Instrument zu nah an meine Ohren – fast so, als würde die soziale Distanz, die es nicht nur zwischen Menschen, sondern auch vom Hörer zum Instrument hin gibt, einfach gekappt. So unmittelbar direkt, ohne die Atmosphäre eine Raumes, wirkt dann die Gitarre bedrohlich mächtig als ob hier ein Wintersturm aufzöge. Kummer bereiten die Metadaten der Einspielung, denn Aufnahmeort und -jahr wurden nicht verzeichnet. Dies gilt auch für die Produktion des auf einer DVD beigelegten Dokumentarfilms Hans Werner Henze in Villa La Leprara – vermutlich ein Muss für Fans, die dann vielleicht über das mehrfach sich wiederholende Raster des Drehbuchs und etliche Längen hinwegsehen können. Die Villa wurde übrigens im Frühjahr 2021 mit Blick auf die hohen Unterhaltskosten und anstehenden Renovierungen von der Henze-Stiftung veräußert.

Hans Werner Henze. Royal Winter Music I (1976); Royal Winter Music II (1979); «Hans Werner Henze in Villa La Leprara». A Docmentary (DVD)
Marco Minà (Gitarre)

NovAntiqua NA 80 (2022)

https://open.spotify.com/album/5TjlSQ1OVsQt4DGa6Qixvs

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 5 von 5 in Michael Kubes HörBar #094 – Gitarre