14. Oktober 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

The British Project

The British Project
The British Project
Da ist auch schon der erste Sündenfall. Dieses Album müsste eigentlich «The English Project» heißen – von schottischen, walisischen oder aus dem nördlichen Irland stammenden Komponisten keine Spur! Aber wem außerhalb des europäischen Kontinents will man derartige «Kleinigkeiten» von der Insel zumuten, wo doch vielerorts auch die «Bavarian Culture» als die ursprüngliche und ureigen deutsche durchgeht? – Die Zusammenstellung dieses «britischen» Projekts ist jedenfalls ziemlich düster. Rein gar nichts ist von dem selbstbewussten spätviktorianischen Ton der Jahrhundertwende präsent, viel eher wird hier die dunkle Schattenseite der Geschichte präsentiert. Elgars melancholische Sospiri, entstanden kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, geben dabei in Ton und Ausdruck den Auftakt vor. Ursprünglich hieß das Stück Soupir d’Amour (Liebesseufzer) als Gegenstück zum weitaus bekannteren Salut d’Amour. Es folgen die Sinfonia da Requiem op. 20 (1940) von Benjamin Britten, eine keineswegs ungebrochen heitere Suite aus Troilus and Cressida (1947/54) von William Walton und die weithin bekannte Fantasia on a Theme by Thomas Tallis (1910/19) von Ralph Vaughan Williams – die in diesem Kontext wie ein mindestens doppelter Abgesang auf die gute alte Zeit anmutet.

Doch scheinen mir gerade hier die Fallstricke einer Einspielung zu lauern, die einer Dirigentin gewidmet ist, die sich an ihrer neuen Wirkungsstätte noch orientiert. Wer je die Tallis-Fantasia in der Einspielung von 1972 mit der Academy of St. Martin in the Fields gehört hat, das vorsichtige Hineintasten in die Partitur, als ob ein Vorhang zur Vergangenheit geöffnet würde, in die man tief berührt, ja innerlich bebend eintritt, der wird von der zwar klanglich weitaus attraktiveren, aber deutlich glatteren Interpretation von Mirga Grazinyte-Tyla und ihrem City of Birmingham Symphony Orchestra enttäuscht sein: Bereits das anfängliche Pizzicato ist allzu streng im Metrum, später blühen die Streicher kaum aus sich selbst heraus auf, statt poetischer Atmosphäre vermittelt die Realisierung im glasklaren satten Sound eher den Eindruck strenger Kalkulation. Mich lässt das kalt, ebenso wie die Sinfonia da Requiem – die von einem ganz anderen, mir nicht ganz verständlichen aufführungspraktischen Standpunkt aus gespielt wird. Unglücklich zudem der Essay im Booklet, der unentschlossen zwischen validen Informationen und eingestreuten subjektiven Zitaten pendelt. Da waren wohl auch die Fragen nicht allzu gut gestellt.

The British Project
Edward Elgar. Sospiri op. 70; Benjamin Britten. Sinfonia da Requiem op. 20; William Walton. Troilus and Cressida, Symphonic Suite (arr. Christopher Palmer); Ralph Vaughan Williams. Fantasia on a Theme by Thomas Tallis
City of Birmingham Symphony Orchestra, Mirga Grazinyte-Tyla

Deutsche Grammophon 486 1547 (2020, 2021)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 2 von 5 in Michael Kubes HörBar #064 – Very British