23. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Opus 1 Feminin / Kathrin Schmidlin

Opus 1 Feminin / Kathrin Schmidlin
Opus 1 Feminin / Kathrin Schmidlin
Nicht einmal bei Komponisten findet sich diese Idee auf einem Album oder in einer Box derartig durchdekliniert: eine Zusammenstellung von Klavierwerken, die alle als gedrucktes «Opus 1» in die Welt traten und mit denen ihr Schöpfer sich empfehlen wollte. Hier nun kommen in knapp einer Stunde nicht weniger als acht Komponistinnen mit ihren Erstlingen zu Wort – von Clara Schumann bis Alicia Terzian (*1934). Präsentieren sich die Herren meist mit Streichquartetten oder Klaviertrios und nur selten mit Sonaten (Brahms und Berg) bzw. Variationen (Schumann), so sind es bei den Damen durchgehend kleine Formen: von einer Sammlung mit «Stücken» über Polonaisen bis hin zu Etüden. Um diese Auswahl ins rechte Licht zu rücken, wäre folgerichtig und gerechterweise eher an Chopin (Rondo), Friedrich Kiel (Bilder aus der Jugendwelt) oder Scriabin (Valse) zu denken.

Tatsächlich ist Vorsicht geboten, um keine falschen Schlüsse zu ziehen. Wer aufmerksam in die zweite Hälfte des 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts schaut, der wird auch sonst kaum ausgewachsene Sonaten finden. Keine Relativierung, aber eine wirkliche historische Einordnung erscheint geboten. Dass von den Trois Morceaux der aus Litauen stammenden Maria Parczewska-Mackiewicz (1862–1918) lediglich eine Berceuse eingespielt wurde, und dies im Booklet mit dem Hinweis auf «zwei weniger persönliche Polkas» begründet wurde, erscheint mir unverständlich – Platz bzw. Spielzeit wäre ja vorhanden gewesen. Dennoch entwickelt das Album mit dem interessanten Titel eine gute Umschau durch das Europa der Romantik und eine gehobenen Salonkultur. Ob die eingespielten Komponistinnen auch «größere Formen» bedienten, bleibt unklar und ist der weiteren Recherche vorbehalten. Kathrin Schmidlin nimmt sich der insgesamt 27 Nummern mit gestalterischem Ernst an und lässt es damit in den Polonaisen von Clara Schumann ein wenig an Leichtigkeit (auch im Anschlag) und musikalischem Witz vermissen. Dennoch: ein bemerkenswertes Album mit einer Reihe von Raritäten.

Kathrin Schmidlin. Opus 1 Feminin
Alicia Terzian. Danza Criolla op. 1; Hilda Kocher-Klein. Kobolde (9 kleine Stücke) op. 1; Cécile Chaminade. Étude printanière op. 1; Mathilde Berendsen-Nathan. Tre Etuder for Piano op. 1; Luise Adolpha le Beau. Fantasie-Stücke op. 1/1; Lied op. 1/2; Melodie op. 1/3; Clara Schumann. Vier Polonaisen op. 1; Maria Parczewska-Mackiewicz. Morceaux op. 1/3; Vítězslava Kaprálová. Pet klavírních skladeb (Fünf Klavierstücke) op. 1
Kathrin Schmidlin (Klavier)

Claves 50-3051 (2021)
https://open.spotify.com/ album/0qnVnEf544QBgde9qpElQN

HörBar<< Leopold Hofmann / Musica ElegentiaDandrieu & Corelli / Le Consort >>

Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

    Alle Beiträge ansehen
hoerbar_nmz

Der HörBar-Newsletter.

Tragen Sie sich ein, um immer über die neueste Rezension informiert zu werden.

DSGVO-Abfrage*

Wir senden keinen Spam! Erfahre mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Teil 4 von 5 in Michael Kubes HörBar #111 – Opus 1