5. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Regards de femmes / Marie-Catherine Girod

Regards de femmes / Marie-Catherine Girod
Regards de femmes / Marie-Catherine Girod

Etwas provokant stellt Vincent Agrech gleich zu Beginn seines Essays im Booklet dieser Produktion die wahrlich heikle Frage: „Ist denn die Hälfte der Menschheit immer noch vergessen?“ Freilich weiß er auch zu differenzieren, denn es verhinderten über Jahrhunderte großteils die Umstände, dass Frauen Federhalter und Notenpapier in die Hand nahmen. Charakteristischerweise stammen viele der frühen Ausnahmen aus aristokratischen oder zumindest großbürgerlichen Familien – sie hatten am „besseren Rand“ der fest gefügten gesellschaftlichen Ordnung das Glück, sich künstlerische Unabhängigkeit im Privaten leisten zu können. Erst später stellte sich die Frage nach der generellen Zugänglichkeit von Institutionen (zur Ausbildung oder Aufführung).

Und so fällt ein gerechtes Urteil weiterhin schwer, zumal aus den genannten Gründen bis weit hinein ins 20. Jahrhundert Frauen eher Klavierstück und Lied als kleine Gattungen für den Salon komponierten, jedoch nur wenig Kammermusik oder gar Sinfonik – in diesem Sinne dürften Louise Farrenc und die aus Pasewalk stammende Emilie Mayer wohl die ersten „vollständigen“ Komponistinnen gewesen sein …

Vor diesem Hintergrund ist auch das programmatisch gelungene, unter dem Motto „Regards de femmes“ (Frauenansichten) stehende Album von Marie-Catherine Girod zu sehen. Mit Werken von insgesamt 17 Komponistinnen wird ein ganzes Panorama vom 18. Jahrhundert (Anna Bon di Venezia) bis hin zur klassischen Moderne (Germaine Tailleferre) durchmessen. Es ist ein Plädoyer für die Vielfalt des Repertoires und der noch immer (und wieder) zu entdeckenden Werke. Indes kommt auch ein Malus ins Spiel: Denn bei den hier eingespielten Nummern handelt es sich nahezu durchgehend um Charakterstücke, die selten einmal eine Spielzeit von mehr als drei Minuten aufweisen. Ausnahmen finden sich bei Louise Farrenc (Variations sur la cavatine de Norma op. 14) und Ethel Smyth (Variations on an Original Theme) – doch auch hier handelt es sich letztlich nur um kurze Einzelsätze. Wie aber über das einzelne, vielfach herrlich kurzweilige Pièce urteilen, um der Sache gerecht zu werden?

Am Ende bleibt es (glücklicherweise) ein Album mit unterhaltenden, mitunter gar wunderbaren Einsichten und noch reizvolleren Perspektiven, die gelegentlich Neugier auf mehr wecken. Marie-Catherine Girods Spiel und Ausdruck überzeugen besonders bei den ernsteren und dunkler timbrierten Stücken, der Klang des Steinway-Flügels ist überraschend angenehm, die Akustik (wie so oft beim Label Mirare) wohltuend natürlich. Ob es eine Fortsetzung geben wird, die dann auch die große Form der Sonate berücksichtigt?

Regards de femmes – Werke von Louise Farrenc, Hélène de Montgeroult, Anna Bon di Venezia, Amy Beach, Agathe Backer Grøndahl, Clara Schumann, Fanny Mendelssohn, Ethel Smyth, Mel Bonis, Jeanne Barbillion, Lili Boulanger, Henriëtte Bosmans, Germaine Tailleferre, Cécile Chaminade, Maria Hester Park, Emilie Zumsteeg, Clara Gottschalk Peterson
Marie-Catherine Girod (Klavier)

Mirare MIR574 (2020)

 

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 1 von 5 in Michael Kubes HörBar #044 – regards de femmes