Heute mal mit einem Gastspiel von Martin Hufner, da Michael Kube als Autor des Booklets dieses Tonträgers als Rezensent ausfällt.
Wie Michael Kube bereits zu Beginn dieser Serie sagte, nicht überall, wo 1923 draufsteht, ist auch 1923 drin. Und nicht überall, wo Berlin draufsteht, ist Berlin drin. Bei dieser CD mit dem Pianisten Herbert Schuch und dem WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Tung-Chieh Chuang stimmt es immerhin zur Hälfte – in beiden Fällen. Neben dem ersten Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven steht ein Konzert für Klavier und kleines Orchester (mit großem Schlagwerk muss man ergänzen) von Erwin Schulhoff aus dem Jahr 1923 und entstanden in Berlin. Ebenso wie – und da ist die Verknüpfung – eine Kadenz für das Klavierkonzert von Beethoven, dessen erster Satz daher mit diesem Implantat Schulhoffs die CD beschließt.
«Es sollte doch nicht so sein, dass man nur noch sieht, dass der Pianist spielt – aber nichts mehr davon hört.»
Der Pianist der Aufnahmen, Herbert Schuch, hat ein paar Korrekturen vorgenommen, die er selbst als nicht substantiell bezeichnet. Darüber darf und sollte man streiten. Es ist natürlich prinzipiell nicht ungewöhnlich für auch autonom agierende reproduzierende Urheber sich die Werke so einzuverleiben, dass diese das Gefühl haben, genau das zu realisieren, was dem komponierenden Urheber vorgeschwebt haben mag. Warum: Weil er nicht wusste, was er erst mit späteren Ohren hätte hören können. Es ist natürlich eine zugleich ausdrücklich ausgesprochene Kritik, dass der Komponist noch nicht über alle die Mittel verfügt hat, die nötig gewesen wären. Nicht allzu selten hat man es in der Werkgeschichte mit entsprechenden Überarbeitungern oder Revisionen von Kompositionen zu tun. Schulhoff hat diesen Prozess an diesem Konzert für Klavier und kleines Orchester offenbar nicht durchlaufen. Michael Kube weist in seinem Booklet auf die Daten der Uraufführung 1925 in Prag und einer weiteren mit dem Komponisten als Pianisten unter dem Dirigat von Ernest Ansermet hin und dem BBC Orchestra in London 1928 hin. «Eine Drucklegung unterblieb».
Ein paar Aufnahmen des Stücks gibt es aktuell auch über Spotify zu hören: Deutsche Kammerphilharmonie (1995) mit Andreas Delfs und Alexandar Madzar, Deutsches Symphonie-Orchester (2014) mit Roland Kluttig und Frank-Immo Zichner und eine mit dem RVC Ensemble (2022) mit James Conlon und Domenic Cheli.
Was die Aufnahme von Herbert Schuch und dem WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Tung-Chieh Chuang gegenüber den anderen hier gelisteten auszeichnet, ist, dass Schuchs Eingriffe nicht nur die beabsichtigte Wirkung (dazu später) erzeugen, sondern sein Spiel insgesamt das im Ausdruck variabelste ist. Das fängt bei der impressionistisch flirrenden Girlandenmusik im ersten Satz an, die ganz plastisch schwebt, wo es bei anderen Aufnahmen geradezu exakt eckig zugeht. Daher gelingt der Übergang in den weitschwingende Melodiebogen ebenso elegant wie den Schwung erzeugend, der diesem Teil der Komposition innewohnt. Wenn dann im zweiten Satz diese Anfangsgirlanden des Klaviers im Orchester wiederholt werden, ist deren Leichtigkeit etwas gewichen, aber wird der Orchesterklang förmlich hinter einen Vorhang gelegt (anders als beim RVC Ensemble mit Conlon, wo dies beinahe zickig-maschinisch präsent wird und damit nicht mehr schwebt – was man aber auch tatsächlich so deuten kann … «es» arbeitet eben). So dann auch im «Jazz»-Teil, der bei Schuch und Chuang federnd gelingt, wo Conlon mit seinem Ensemble die Zeit quasi abzählt und abzirkelt.
Die Frage dabei ist und bleibt, was ist historisch korrekt und was ist musikalisch korrekt? Es ist heute sehr schwierig, die Situation von 1923 nachhörbar einzuschätzen. Was Jazz in Europa und Berlin damals war, ist manchmal die Rezeption neuer Tanzstile, die sich über Paris und London auch nach Berlin hinbewegten. Der Jazz wird das Jahrzehnt noch deutlich beschäftigen, aber 1923 war seine Existenz eher eine des Begriffs als die einer musikalischen Realität – gerne nachlesen in Wolfram Knauers «Die Geschichte des Jazz in Deutschland» (Stuttgart 2019) bei dem nur spärliche Indizien für Wahrnehmungsvorgänge in Deutschland 1923 vorliegen. Das nimmt aber bald Fahrt auf: wie weitaus präsenter Jazz bereits 1926 im europäischen Denken sich eingenistet hat, liest man in Hans Ulrich Gumbrechts «1926. Ein Jahr am Rande der Zeit» (Frankfurt 2001) – bei dem auch umgekehrt das Maschinische des Jazz als Element seiner Zeit eine Rolle spielt.
Das alles ist in dem Klavierkonzert von Schulhoff dabei, aber eher noch wie ein Gerücht.
Ebenso wie die Hyperinflation und die politische Wirrnis des Jahres 1923 in Deutschland. Dass er in Berlin genau in dieser Zeit sich aufhielt und auch verließ, steht vermutlich damit in Zusammenhang. Wovon sollte man als Künstler leben?
Was das alles bedeutet: Es ist absolut nachvollziehbar, wenn Schuch die Musik von 1923 mit jüngeren Ohren in die Richtung aktualisiert, die dem musikalischen Spirit, der sie ausgelöst hat, mehr entspricht. Das ist schließlich auch ein Verfahren und eine Praxis, wie mit notiertem Jazz umgegangen wird, bei dem man im rhythmischen Timing anders spielt als es im Text exakt steht. Es tut der Komposition gut! Es ist auch ein Stück Musik am Rand der Zeit und einer musikalischen Existenz in Bewegung.
Beethoven, ach ja. Schlicht und licht und leicht. Jugendlich frisch, präzise luftig. So wünscht man sich das. Auch mit der Kadenz von Schulhoff.
[Gastautor: Martin Hufner]
Berlin 1923 – Schulhoff / Beethoven – Piano Concertos
- Ludwig van Beethoven: Klavierkonzert Nr. 1 C-Dur op. 15
- Erwin Schulhoff. Klavierkonzert Nr. 2 op. 43 (WV 66)
- Ludwig van Beethoven. 1. Satz aus Klavierkonzert Nr. 1 op. 15 (Kadenz: Erwin Schulhoff)
Herbert Schuch (Klavier), WDR Sinfonieorchester Köln, Tung-Chieh Chuang
CAvi 8553539 (2021)
- Schumann Quartett / 1923
- André Caplet / 1923
- Herbert Schuch / Berlin 1923
- Bartók / Krenek / Toch / Weill
- Yaara Tal / 1923