Mitunter kann auch ein Großlabel richtig überraschen. So jüngst die Deutsche Grammophon, die doch sonst so gerne (und erstaunlich zielsicher) jede populäre Welle abreitet. Ich musste mir verblüfft die Augen reiben, als ich im Newsletter die Ankündigung einer Neueinspielung aller Sinfonien von Carl Nielsen las. Denn am Horizont taucht kein Jubeljahr auf, und im Konzertrepertoire fristen die Werke noch immer ein Schattendasein. Dabei steckt Nielsens Musik voller Genie und Witz, hat einen sehr eigenen, unverkennbaren und dabei dänisch geprägten Tonfall, nimmt mit ihrem anziehenden Esprit für sich ein, kann aber auch mitunter verunsichern. Wie Nielsen sein Orchester (ob im Breitband-Sound oder eher kammermusikalisch) in Szene setzt, das überrascht immer wieder: Hier müssen die Interpreten mit wohldosiertem Kalkül die Muskeln spielen lassen und nur einen Moment später in unterkühlte Lyrik verfallen.
Für eine Gesamteinspielung ist jedenfalls das Danish National Symphony Orchestra (das in Kopenhagen beheimatete Orchester des Dänischen Rundfunks) geradezu prädestiniert. Wohl kein anderer Klangkörper kann bei Nielsen auf eine so kontinuierliche eigene Aufführungstradition zurückblicken, die auch seit Mitte des 20. Jahrhunderts alle 20 bis 25 Jahre durch eine Gesamteinspielung dokumentiert wird: in den 1950er Jahren mit Thomas Jensen, Erik Tuxen und Launy Grøndahl, Mitte der 1970er unter Herbert Blomstedt (EMI/Warner), um die Jahrtausendwende mit Michael Schønwandt (dacapo, wiederveröffentlicht bei Naxos) – und nun mit Fabio Luisi, der seit 2017 in Kopenhagen als Chefdirigent wirkt (entsprechende Positionen in Tokio und in Dallas sind hinzugekommen). Jede dieser Einspielungen ist zugleich ein Spiegelbild der jeweiligen Interpretationskultur – und da überzeugt noch heute Schønwandts sensationeller Zyklus mit seinem aufregenden Zugriff auf die Partituren: frisch, unmittelbar, packend, differenziert und erwartungsfroh. Fabio Luisi setzt bei seiner Einspielung anders an: Farblich sehr genau ausgehört und orchestertechnisch auf höchstem Niveau wirken die Interpretationen unnatürlich blankpoliert, mancher Harmoniewechsel geradezu cineastisch inszeniert. So gewinnt man den Eindruck von Fülle und Erhabenheit, ohne dass dieser tatsächlich eingelöst würde (etwa in der Sinfonie espansiva mit ihrem vokal angereicherten Finale). Zudem ermüdet der etwas zu weiträume Klang des (leeren?) Konzertsaals, den ich so von dort nicht in Erinnerung habe.
Carl Nielsen. The Symphonies
Sinfonie Nr. 1 g-Moll op. 7 FS 16, Sinfonie Nr. 2 op. 16 FS 29 (Die vier Temperamente), Sinfonie Nr. 3 op. 27 FS 60 (Sinfonia espansiva), Sinfonie Nr. 4 op. 29 FS 76 (Das Unauslöschliche), Sinfonie Nr. 5 op. 50 FS 97, Sinfonie Nr. 6 FS 116 (Sinfonia semplice)
Fatma Said (Sopran), Palle Knudsen (Bartion), Danish National Symphony Orchestra, Fabio Luisi
Deutsche Grammophon 486 3471 (2019, 2022)