24. April 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Johannes Brahms / William Steinberg

Johannes Brahms / William Steinberg
Johannes Brahms / William Steinberg
Es liegt am Lauf der Zeit, dass sich der Horizont für «historische Aufnahmen» stetig verschiebt und dabei immer näher an die eigene musikalische Biographie heranrückt. Es ist einfach eines dieser sicheren und nicht ganz schmerzlosen Indizien dafür, dass man auch selbst immer mehr «historisch» wird. Früher waren es noch die rauschenden Aufnahmen aus der Zeit der Pioniere, dann wurden die großen Mono-Einspielungen von mal mehr, mal weniger geübter Hand «restauriert». Inzwischen gräbt man auch fleißig in den 1960er Jahren, die aufnahmetechnisch ebenfalls für Innovationen stehen: hier durch ein 35mm-Magnetfilm-Verfahren, das den Klang eines Orchesters auch heute noch überraschend präsent erscheinen lässt. Wie bei dieser Aufnahme der Brahms-Sinfonien unter William Steinberg, einst eingespielt für die Command Classics, nun auf CD und im Streaming wiederveröffentlicht durch die Deutsche Grammophon.

Es ist dabei sehr anregend, die im Booklet auszugsweise mitgeteilten Rezensionen «von damals» mit den eigenen Hörerfahrungen und Hörerwartungen zu vergleichen. So wurde der Einspielung der ersten Sinfonie ein straffes Tempo attestiert, während man dieses heute eher im mittleren Bereich ansiedeln wird. Ausgenommen allerdings das Allegro des Finales, das hier wirklich ein «con brio» realisiert, dabei aber erstaunlich durchsichtig klingt. Ohnehin legte William Steinberg, der seine Erfahrungen bei Klemperer und Toscanini sammelte, mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra einen verblüffend entschlackten, modernen Brahms vor. Dies gilt zumal für die lyrisch gestimmte zweite Sinfonie: keine träumerische Versonnenheit, sondern ein ungetrübter Blick in den Notentext lässt hier den Verlauf geradezu fließen – und bringt einem das Werk nochmals wirklich näher. So wirkt auch der Kopfsatz der Dritten vollkommen von Pathos befreit, auch die abschließende Passacaglia der Vierten wird klar strukturierend angegangen. Ein Brahms also ohne «Gefühl»? Weit gefehlt. Hier gewinnt die Musik mehr Ausdruck und Freiheit, aus sich selbst zu sprechen, als wenn man mit dem breiten Pinsel und viel gutem Willen allzu dick aufträgt. Eine in jeder Weise willkommene, stimmige und vom Orchester bestens umgesetzte Interpretation, die am Ende gar nicht so «historisch» wirkt.

Johannes Brahms. The Symphonies; Tragic Overture op. 81
Pittsburgh Symphony Orchestra, William Steinberg

Deutsche Grammophon 486 1815 (1961, 1962, 1965)

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