Innerhalb von Bruckners sinfonischem Schaffen fallen die Sinfonien Nr. 3 und 4 als Werke auf, die in gleich mehreren Fassungen vorliegen – Fassungen, die sich so grundlegend unterscheiden, dass man sie fast für eigenständige Werke halten könnte. So hat Bruckner zunächst die erste Fassung der Sinfonie Nr. 4 in Es-Dur am 22. November 1874, am Namenstag der Heiligen Cäcilie (der Schutzpatronin der Musik) vollendet. Doch nachdem das Werk weder in Wien durch Hans Richter noch in Berlin durch Benjamin Bilse angenommen worden war, kündigte er am 1. Mai 1877 gegenüber dem Musikkritiker Wilhelm Tappert eine Revision an: «Gestern nahm ich die Partitur der 4. Sinfonie zur Hand und sah zu meinem Entsetzen, dass ich durch zu viele Imitationen dem Werk schadete, ja oft die besten Stellen der Wirkung beraubte. Diese Sucht nach Imitation ist Krankheit beinahe.» Ohne dass die ursprüngliche Fassung der Vierten jemals auch nur probeweise erklungen war (sie wurde erst ein Jahrhundert später 1975 in Linz aufgeführt), nahm Bruckner 1878 und noch einmal 1879/80 mehrere entscheidende und zahlreiche kleinere Veränderungen vor: Er tauschte das Scherzo durch einen vollständig neu komponierten Satz aus, ähnlich verfuhr er im zweiten Durchgang mit weiten Teilen des Finales – womit die für die Bildung eines mehrsätzigen Zyklus’ entscheidende zweite Hälfte des Werkes eine vollkommen neue Gestalt erhielt…
Doch wozu dieser philologische Exkurs in einer Rezension der Hörbar? Die Antwort liegt sofort auf der Hand bzw. im Ohr: Weil die von François-Xavier Roth und dem Kölner Gürzenich-Orchester eingespielte erste Fassung von 1874 so gänzlich neu klingt, anders «funktioniert» und einen mit Gefühlen der Überraschung, der Verblüffung und Verwunderung, teils auch mit Fragen zurücklässt. Hatten Bilse und Richter einfach nur ein gutes Gespür, als sie die Aufführung der ursprünglichen Fassung ablehnten? Welche Bedeutung hatte die Revision für Bruckner selbst? War er zu stark von außen beeinflusst, oder fand er erst durch die Bearbeitungen zum Kern seiner Ideen? Fragen, die kaum letztgültig beantwortet werden können, die allerdings durch die fulminante Einspielung ein neues Fundament gewinnen. So bewusst, so ernst in der Sache und unabhängig vom Späteren habe ich eine frühe Fassung selten gehört. Ein Album, das aufrüttelt – auch jene, die auf dem Cover einen Hinweis auf die erste Fassung vermissen.
Anton Bruckner. Sinfonie Nr. 4 (1. Fassung, 1874)
Gürzenich-Orchester Köln, François-Xavier Roth
myrios classics MYR 032 (2021)
- Haydn / Paavo Järvi
- Saint-Saëns / Ivor Bolton
- Bruckner 4 (1874) / François-Xavier Roth
- Mendelssohn 4+5 / Alexis Kossenko
- Carl Nielsen / Fabio Luisi