7. Dezember 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Saint-Saëns 1+2 / Jean-Jacques Kantorow

Saint-Saëns 1+2 / Jean-Jacques Kantorow
Saint-Saëns 1+2 / Jean-Jacques Kantorow

Ursprünglich sollte das ausgefallene Beethoven-Jubeljahr in die Verlängerung gehen. Andere runde Geburts- und Gedenktage hingegen waren schon zuvor in den Schatten gedrängt worden. Und nun 2021: Dass u.a. der 100. Todestag von Camille Saint-Saëns ansteht, ist weder publizistisch noch, landauf landab, in den rudimentären, behelfsweise gestrickten Versuchs-Programmen präsent. Denn wäre bei ihm nun wirklich einmal in wohl allen Gattungen Unbekanntes zu entdecken – mehr als die Orgelsinfonie und den ewig wiederkehrenden, gerne auch missverstandenen «Karneval».

Nur ganz aufmerksame Beobachter haben sich schon früher einmal gefragt, was etwa im sinfonischen Bereich vor der «Nr. 3» verborgen ist. Tatsächlich hat sich Saint-Saëns (1835–1921) entgegen den Vorlieben seiner Zeitgenossen in jungen Jahren nicht bei der italienischen Oper angebiedert, sondern sich der deutsch-österreichischen Instrumentalmusik verschrieben. Dieses Abenteuer kann nun mit dem Orchester aus dem frankophonen Lüttich nachvollzogen werden. Und wer sich in den Meisterwerken der Gattung auskennt, wird schon an der juvenilen, vermutlich im Alter von gerade einmal 15 Jahren geschriebene Sinfonie A-Dur seine Freude haben: Im Kopfsatz wird das charakteristische Fugen-Thema aus dem Finale von Mozarts Jupiter-Sinfonie aufgegriffen (und ganz anders entwickelt). Mehr aber noch gewinnt man einen Eindruck, wie Saint-Saëns (dem jungen Schubert verblüffend ähnlich) gehört, gelesen, nachgeahmt, adaptiert und am Ende eigene Lösungen gesucht und gefunden hat. Bei den mit Opuszahl versehenen Sinfonien Nr. 1 op. 2 (Es-Dur, 1853) und Nr. 2 op. 55 (a-Moll, 1859) scheinen dann Beethoven, aber auch Bach und Berlioz als große Vorbilder durch.

Alles also bloß epigonal? Keineswegs! Man hört einen frühgenialen Komponisten die musikalische Welt erobern, man erkennt, welche Partituren für ihn von besonderer Bedeutung waren, wie er sie schöpferisch reflektierte – und welche eben auch nicht, wie etwa die einst verlegerisch gehypte, allerdings doch nur mittelprächtig ausgefallene Preis-Sinfonie von Franz Lachner. Dass Jean-Jacques Kantorow die Partituren für die Einspielung nicht auf die leichte Schulter nahm, ist der Aufnahme in jedem Moment anzuhören. Nur selten werden aus dem Raster des Repertoires fallende Jugendwerke so ernst und gleichzeitig mit so versierter Freiheit gestaltet. Ob sich das unprätentiöse Engagement des Orchestre Philharmonique Royal de Liège auch auf die beiden noch verbleibenden großen Sinfonien überträgt («Urbs Roma» und die «Nr. 3»), darf mit Spannung erwartet werden – auch weil hier bereits im Katalog die namhafte Konkurrenz mit seit Jahrzehnten eingeführten Produktionen lauert.


Camille Saint-Saëns: Sinfonie A-Dur (1850), Nr. 1 Es-Dur op. 2, Nr. 2 a-Moll op. 55
Orchestre Philharmonique Royal de Liège, Jean-Jacques Kantorow

BIS BIS-2460 (2019, 2020)

 

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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