8. Oktober 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Charles Ives: Sinfonien Nr. 1–4 / Gustavo Dudamel

HörBar #33, Charles Ives, Los Angeles Philharmonie, Gustavo Dudamel, Deutsche Grammophon
HörBar #33, Charles Ives, Los Angeles Philharmonie, Gustavo Dudamel, Deutsche Grammophon

Obwohl Charles Ives in New York tätig war, scheint seine Musik allein an der amerikanischen Westküste ein diskographisches Echo gefunden zu haben. Abgesehen von den Einspielungen unter Leonard Bernstein aus Manhattan (allerdings nur die Nr. 2 und 3) und dem Zyklus mit Charles Davis aus dem australischen Melbourne (Chandos) stand bisher immer die um zahlreiche kleinere Partituren ergänzte Gesamteinspielung mit dem Orchester aus San Francisco unter Michael Tilson Thomas einzig da. Dass nun die Deutsche Grammophon, deren Neuproduktionen seit geraumer Zeit das Repertoire seltsam ausfransen lassen, eine Einspielung der vier Sinfonien als Doppelalbum herausbringt, darf einigermaßen überraschen. Mit dem Los Angeles Philharmonic und Gustavo Dudamel stehen freilich zwei Zugpferde auf dem Gelblabel, die es auch skeptischen Liebhabern leicht machen könnten, bei diesen doch weithin unbekannten Werken trotzdem zuzugreifen. Spektakuläres darf man allerdings nicht erwarten, denn die Aufnahmen klingen vor allem schön, manchmal gar allzu schön. Das liegt zum einen an den seidig glänzenden Streichern, zum anderen an dem durchhörbaren Klang, der auch die Holzbläser präsent hervortreten lässt. Vor allem aber nimmt Dudamel die Partituren von ihrer traditionellen, romantischen Seite. So wirkt die Sinfonie Nr. 1 d-Moll (1898–1902) wie ein aus dem 19. Jahrhundert zusammengewürfeltes Kaleidoskop: von Brahms und Dvořák (Englischhorn!) über Bruckner bis hin zu einem überraschend an Carl Nielsen erinnernden Finale. Einen erstaunlich geschmeidigen Eindruck hinterlassen dann aber auch die weiteren Sinfonien, selbst das Finale der Nr. 2 (1897–1902) erscheint geglättet. Ein Hinweis auf die dahinter stehende Strategie findet sich im Kopfsatz der Nr. 3 (1908–1910) mit seiner klaren Faktur: Dudamel scheint einer harmonisch greifbaren Hauptlinie zu folgen, hinter der polytonale und rhythmisch geschichtete Aspekte wie durch einen Filter zurücktreten und nur von der Seite hineinragen. Dies gilt noch mehr für die Nr. 4 (1910–1925), die im Vergleich zu der offenbar ganz unter dem Eindruck der zeitgenössischen Avantgarde stehenden Ersteinspielung unter Leopold Stokowski (1965) erstaunlich harmlos klingt. Dudamel nimmt diese «Apotheose des Vorangegangenen» (Ives) durch seinen Weichzeichner fast schon cineastisch elegant – noch nicht einmal als produktives Missverständnis.

 


Charles Ives. Sinfonien Nr. 1–4
Los Angeles Philharmonic, Gustavo Dudamel

Deutsche Grammophon 483 9502 (2020)

 

 

 

 

 

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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