Es muss immer wieder erstaunen, wie souverän Penderecki vor dem Hintergrund der langen Gattungsgeschichte die Leidensgeschichte Jesu erzählt, sie nicht mit den gerade erst erprobten Cluster-Klängen und neuen Techniken als kompositorischen Selbstzweck inszenierte, sondern durch sie das Geschehen erst vergegenwärtigt und erfahrbar macht. Vielmehr ist es Penderecki gelungen, mit wenigen markanten Tonkonstellationen und wiederkehrenden Motiven ein das Werk durchziehendes Netzwerk anzulegen.
Gleichwohl sind die beiden Teile der Passion unterschiedlich angelegt. Während im I. Teil mit der Szene am Ölberg, der Gefangennahme und Verleugnung Christi durch Petrus, dann mit der Verspottung durch die Hohepriester und der Szene vor Pilatus die inhärente Dramaturgie im Vordergrund steht, sind es im II. Teil die Geschehnisse unterm Kreuz: die Verhöhnung durch das Volk, der Dialog mit den Verbrechern und der Tod Christi. So finden sich zunächst dichte Wechsel zwischen der Berichtsebene (Evangelist), den handelnden Akteuren sowie den kommentierenden Reflexionen; später steht eher die Kontemplation – auch unter Einbeziehung des unbegleiteten Stabat mater – im Vordergrund. Vor allem die Übertragung der von Penderecki ursprünglich für Saiteninstrumente entworfenen Notation auf den Chor ermöglichte eine in dieser Weise neuartige unmittelbare Darstellung der «Turbae»: als geräuschhafte Annäherung der Schar bei der Gefangennahme, dann ihr Flüstern und entsetztes Aufschreien; die geradezu gestisch klingende Spötterei der Hohepriester, ihr Gelächter wie auch ihr hämisches Fragen.
Einst umstritten und anlässlich der 700-Jahrfeier des Doms zu Münster uraufgeführt (1966), handelt es sich auch um ein Werk, in dem bereits einiges von der späteren Ästhetik des Komponisten im Ansatz durchschimmert. Dass es etwas mehr als ein halbes Jahrhundert später die Salzburger Festspiele 2018 eröffnete, ist daher nur folgerichtig und zeigt überdeutlich das Altern der einstigen Avantgarde. Es ist wohl dem Renommee des Festivals geschuldet, dass man diese damalige Aufführung international besetzte: mit Chören aus Krakau und Warschau, einem Orchester aus Montréal und dessen damaligen amerikanischen Chefdirigenten. Der Anspruch, die Partitur in der Felsenreitschule «schön» klingen zu lassen, wird in diesem Konzertmitschnitt direkt greifbar. Hier eckt nahezu nichts an, bequem kann man sich zurücklehnen und vor einer wie auch immer gearteten inneren Erschütterung bewahren. Erreicht wird dies durch vergleichsweise zügige Tempi und einen ausgesucht runden Klang. Dem von Penderecki vertonten inneren Gehalt kommt die Einspielung unter Antoni Wit (2002, Naxos) weitaus näher – eine Passion sollte nichts für eine allzu bequeme Sitzhaltung sein.
Krzysztof Penderecki: Passio et mors Domini nostri Iesu Christi secundum Lucam (Lukas-Passion) (1966)
Sarah Wegener (Sopran), Lucas Meachem (Bariton), Matthew Rose (Bass), Slawomir Holland (Evangelist), Warsaw Boys’ Choir, Kroków Philharmonic Choir, Orchestre symphonique de Montréal, Kent NaganoBIS 2287 (2018)
Nicht zu vergessen die Sopranistin Sarah Wegener, die nicht in er Lage ist, die von Penderecki im „Dominus, quis habitabit“ geforderten Feinabstufungen von Klang und Intervallik (Vierteltöne) zu realisieren und alles mit ihrem emotionalisierendem Vibrato erstickt…