6. Dezember 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Jazz & Variety

Jazz & Variety
Jazz & Variety
Sowohl der Titel des Albums als auch die Überschrift des einführenden Essays treffen nur bedingt die eingespielte Musik: Jazz & Variety bezieht sich (und dies allenfalls im weitesten Sinne) nur auf einen Teil der Werke, und die Introduktion (Schostakowitschs unbekümmerte Seite) spiegelt eher eine gängige Rezeptionshaltung gegenüber den hier versammelten Nummern und Werken: einer Jazz-Suite (wobei in der Sowjetunion der Begriff «Jazz» anders gefasst wurde), einer Suite für Variété-Orchester (das dann aber doch groß besetzt ist) sowie zwei Suiten aus Filmmusiken mit durchaus ernsten Seiten (Das goldene Zeitalter und Der klare Strom). Man kann die Einwände auch auf einen einzelnen Satz fokussieren: den allseits bekannten Walzer aus der (bisher fälschlicherweise als Jazz-Suite Nr. 2 bezeichneten) Suite für Variété-Orchester. Jazzig klingt hier allenfalls das Saxophon, und bei der Verortung in ein «Variété» kommt einem bestenfalls die Gestalt eines traurigen Clowns in den Sinn, über den man dennoch lacht.

Schostakowitsch konnte sich auch bei diesen vermeintlich leichteren Partituren nicht der für seine Musik so charakteristischen Doppelbödigkeit entziehen. Dem widerspricht keineswegs, dass der Komponist Freude am Absurden hatte, zu sarkastischem Witz neigte und wohl nur auf der Tribüne im Fußballstadion ganz aus sich herausgegangen sein soll – einen neutraleren Ort, sich «Luft zu machen», dürfte es kaum geben. Und so liegt es einmal mehr an der ganz persönlichen Art des Hörens, was man in den fraglos unterhaltenden Sätzen als «light music» empfinden mag oder kann. – Andrew Litton und das Singapore Symphony Orchestra haben es sich bei der Aufnahme jedenfalls nicht zu leicht gemacht. Präzise Rhythmen und durchdachte Phrasierung veredeln die Stücke, die einem oft genug mit allzu leichter Hand hingeworfen werden.

Dmitri Schostakowitsch. Jazz & Variety
Suite for Jazz Orchestra No. 1; Suite from «The Age of Gold» op. 22a; Suite from «The Limpid Stream» op. 39a; Suite for Variety Orchestra; Tahiti Trot
Singapore Symphony Orchestra, Andrew Litton

BIS 2472 (2019)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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