28. März 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Keith Jarrett – Bordeaux Concert

Keith Jarrett – Bordeaux Concert
Keith Jarrett – Bordeaux Concert

Der Endpunkt seines pianistischen Schaffens womöglich. Darüber hängt dieses Gefühl, das man kennt, weil man weiß, dass nach zwei Schlaganfällen im Jahr 2018 das Ende seiner künstlerischen Laufbahn erreicht sein dürfte. Jedenfalls in der Form des Pianospiels. Der nachkommende Schatten hängt somit über den Auftritten, die Keith Jarrett zuvor absolvierte. Das Konzert in Bordeaux ist das letzte aus dem Jahr 2016, das veröffentlicht wurde. Aufgenommen wurde es 10 Tage vor dem Konzert in München und drei Tage nach dem in Budapest am 6. Juli.

Ein Konzert von atemberaubender Schönheit insgesamt, gelegentlich so klar und abgeklärt in Part II (das anfängt wie aus Mittelasien importiert und sich selbst groovend ins Wort fällt), doch manchmal tatsächlich harmonisch abgleitend wie in der Mitte von Part VI (bei 1:47/48) – aber selbst da macht er noch das möglichst beste aus den „Verfahrungen“. So ist das eben, wenn man auf sich selbst gestellt ist und die komplexen Geflechte kaum noch zu bändigen sind. Das passiert auch in Part VII wenn man ganz aufmerksam hinhört. So, als ob Keith Jarrett dann zu viele Fäden auf einmal verstricken würde. Aber das ist das zugleich so Einnehmende des konzentriertesten Livespiels von Jarrett, er findet immer wieder eine musikalisch plausible Lösung, um den Faden wieder aufzunehmen und in einer überraschenden Wendung weiterzuverarbeiten. (Oder mit diesem erstaunlichen „trockenen“ Passagen im ersten und längsten Stück den Tempowechseln auf gleichbleibendem Grundmetrum.)

Der Blues in Part VIII richtet es wieder ein, ist eine Entspannungsmusik, die die Anspannungen freigibt. Aber natürlich geht selbst da Keith Jarrett nicht unter sein Niveau und kredenzt die Abweichung zur Normalität und es überrascht – gewinnt man den Eindruck gerade bei diesem Blues – den Musiker selbst, der sich selbst immer mehr mitbegeistern lässt. Irre!

In Part XI fühlt man sich hineinversetzt in einen französischen Film aus den 60er-Jahren mit fast quälender Leichtigkeit durchmisst er eine Art Lovestory (für mein Gefühl ist es jedenfalls so). In Part XII löst sich alles zum Schlaflied hin auf – mit dieser süffigen Sattheit im Klang, die auf lichten Flügeln frei pendelnd fliegt und einen dabei in den Arm nimmt. Es ist doch nur Musik, himmelwärts gedacht.

Ich habe mich gefragt: Kann man aus den ersten Klängen eines solchen Konzertes den Ablauf nicht nur des Stücks, sondern des ganzen Abends erahnen? Die drei Konzerte aus 2016 eint allerdings, dass am Anfang das jeweils längste Stück steht, das immer herausfahrend Material durch den Raum wirft. Danach konsolidieren sich die Abende in einer Mischfolge mit Blues, lyrischem Song und Klangfetzgeschichten. Den exakten Ablauf kann man wohl nicht voraussehen, aber doch eine Grundstimmung, die den Abend durchziehen wird. Hier in Bordeaux ist es eine musikalische Melancholie, die einen dunkel mitherabzuziehen in der Lage ist. Das ist fast schmerzhaft – und in gewisser Weise passt so das Konzert in Bordeaux an das Ende eines musikalischen Lebens, besser als das Konzert in München, so dass die verdrehte Abfolge der Veröffentlichung von ECM angemessen und würdig erscheint (sage ich mal in Unkenntnis des Konzertes aus Budapest).

PS: Aufnahme, ganz ohne jeden Applaus zwischendrin oder am Ende.


Keith Jarrett – Bordeaux Concert [2022]

  • Keith Jarrett: Piano

ECM 2740

 

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