Je südlicher man sich auf den amerikanischen Doppelkontinent denkt, desto größer wird die Sehnsucht. Patagonien steht für weite Landschaften und fast unendlich scheinende Wegstrecken hin zu schroffen Gipfeln, mächtigen Abbruchkanten und Eisbergen, die Pinguine nicht zu vergessen. Und man erinnert sich an den Old Patagonian Express von Paul Theroux (1979), der den Autor bis ins (vergleichsweise) nördliche Esquel führte – ein Reiseroman wie aus einer anderen Zeit. So melancholisch wie die Musik von Astor Piazzolla. Und damit spricht dieses Album vielleicht eher die individuellen Vorstellungen, Erinnerungen und Träume jedes Einzelnen an.
Aber war nicht ohnehin die Idee des Tangos, unerfüllte Sehnsüchte in sich aufzunehmen und sie klanglich zu realisieren? Selten jedenfalls habe ich an dieser Musik so viel Freude gehabt, und zwar nicht nur, weil Piazzollas «Vier Jahreszeiten» hier für Klaviertrio arrangiert wurden. Denn in dieser Fassung vereint sich vieles: die ursprüngliche Kraft der Musik, die so viele thematische Ideen, Epochen und Satztechniken in sich vereint, der vertraute schwermütige «Sound» des Ensembles, das zwischen Konzert, Salon und intimer Kammermusik steht. Die Formation mit Oscar Bohórquez (Violine), Claudio Bohórquez (Violoncello), Gustavo Beytelmann (Klavier) jedenfalls versteht es in glücklicher Weise, die Kompositionen für ihre Besetzung zu adaptieren und sie unmittelbar anmuten zu lassen, ohne dabei in melancholische Gefühligkeit abzugleiten. Diese Reise durch Patagonien tritt man gerne an. Und wer weiß, auf welchen Wegen man am Fuße der Anden von Esquel aus noch weiter in den Süden vorstoßen kann…
Patagonia Express.
Astor Piazzolla. Las Cuatro Estaciones Porteñas (Arr. für Klaviertrio); Gustavo Beytelmann. Ofrenda (Homenaje á Astor Piazzolla), Balada, Tango; Duke Ellington. Caravan
Oscar Bohórquez (Violine), Claudio Bohórquez (Violoncello), Gustavo Beytelmann (Klavier)
Brilliant Classics 0301569 BC (2019)