Früher hatten nach Vollständigkeit strebende Langzeitprojekte in der Musik ein hohes Ansehen. Ich erinnere mich an sämtliche Mozart-Sinfonien unter Karl Böhm (noch ganz frei von den Erkenntnissen der historischen Aufführungspraxis) und natürlich an die Bach-Kantaten unter Nikolaus Harnoncourt – den LP-Kassetten waren in den großformatigen Beiheften sogar die entsprechenden Partituren der Alten Bach-Ausgabe beigegeben. Ein in dieser Weise auf weit denkende, lesekundige Hörer abzielender Coup erscheint heute undenkbar. Dann kam Anfang der 1980er Jahre die großartige, umfassende Haydn-Edition bei Telefunken/Decca – ein anfänglich noch in blaues Leinen(!) eingeschlagener mehrteiliger Altar für den Schallplattenspieler. Die Sinfonien unter Antal Doráti sind in der Tat noch heute mit Lust rezipierbar. Später schrieb dann der Zyklus mit der Academy of Ancient Music unter Christopher Hogwood Interpretations- und Schallplattengeschichte: Die Aufnahmen klingen nicht nur hinreißend frisch, sondern sie entstaubten auch das Bild des «Papa Haydn». Leider fehlte dann ausgerechnet vor den letzten, großen Sinfonien dem (unkundigen) Label-Management der Mut, die Serie bis zum Ende durchzuziehen. Bei Sinfonie Nr. 75 war Schluss – das Projekt blieb Fragment.
Wenigstens vollständig waren dann die Einspielungen mit dem Austro-Hungarian Haydn Orchestra (Adam Fischer) oder dem Stuttgarter Kammerorchester (Dennis Russel Davis). Doch erst mit dem aus der Schweiz solide finanzierten Projekt «Haydn2032» ging wirklich ein neuer Stern auf. Seit 2014 sind bisher zehn Doppelalben mit dem Ensemble Il Giardino Armonico unter Giovanni Antonini erschienen. Eine Erleuchtung in jeder Hinsicht – nicht nur wegen der zupackenden, alles andere als bloß radikalisierenden Interpretation, sondern auch wegen des in jeder Folge neu gewichteten und sinnvoll ergänzenden zeitgenössischen Kontextes, in dem auch andere Komponisten und ihre Werke erstrahlen können. In Vol. 10 erklingen nun die Tageszeiten (Le Matin, Le Midi, Le Soir), kombiniert mit Mozarts Serenata notturna KV 239. Was für ein Potenzial in den manchmal belächelten Werken steckt, macht diese Einspielung deutlich – und beweist die Weitsicht des Fürsten Paul II. Anton Esterházy, der 1761 den jungen Joseph Haydn als Vizekapellmeister an seinen Hof holte. Der nämlich musste nicht erst auf dessen Landsitz «originell» in Form und Ausdruck werden. Das jedenfalls zeigt Giovanni Antonini in dieser beglückend vielfarbigen und inspirierten Aufnahme, die den Partituren der «Tageszeiten» wirkliches Leben einhaucht. Ein großer Wurf!
Joseph Haydn. Sinfonie Nr. 6 D-Dur Hob. I:6 «Le Matin», Sinfonie Nr. 7 C-Dur Hob. I:6 «Le Midi», Sinfonie Nr. 8 G-Dur Hob. I:8 «Le Soir»; Wolfgang Amadeus Mozart, Serenade Nr. 6 D-Dur KV 239 «Serenata notturna»
Il Giardino Armonico, Giovanni AntoniniAlpha ALP 686 (2019)