6. Dezember 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Ligeti / Quatuor Diotima

Ligeti / Quatuor Diotima
Ligeti / Quatuor Diotima
Nicht erst zu seinem 100. Geburtstag ist György Ligeti zu einem «Klassiker» der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geworden. Unabhängig im Denken wie auch in der Ästhetik, mehr aber noch ein Sympathieträger in der sprachlichen Vermittlung von Musik, war er schon zu Lebzeiten ein Solitär – und wer ihn auch nur einmal persönlich erlebte, war von seinem Charakter und seiner spielerischen Art im strengen Experiment fasziniert. Das zeigen seine kurzen und griffigen Stücke für Holzbläserquintett, ebenso seine Streichquartette, dessen erstes sich aus der ungarischen Tradition (Bartók) mit jedem Ton herausschält, während das zweite die im Requiem und in Lontano gesammelten Klangerfahrungen intensiviert und weiterdenkt.

Nicht zufällig liegen davon aktuell mehr als ein Dutzend Einspielungen vor, so dass jede Neuaufnahme sich inzwischen auch gegenüber der bestehenden Konkurrenz zu beweisen hat. Das Quatuor Diotima wählt dazu den direkten Weg – nämlich den des unmittelbaren Klangs, wie man ihn etwa vom Kronos Quartet kennt; nur gelegentlich schimmert die Akustik der im Booklet propagierten Grande Salle im Arsenal (Metz) durch. Jeder Ton, nahezu jede in der Partitur verzeichnete Anweisung wird auf erschütternde Weise in akustischer Präzision offengelegt, so dass fast eine hörbare Enzyklopädie entsteht, bei der auch Geräuschhaftes auf suggestive Art präsent wird. Gleichzeitig zerfällt das Klangbild in einzelne, akustisch teilweise unnötig überraschende Aktionen. Auf der Strecke bleiben für mich die eigentlichen Klangräume, wie etwa zu Beginn des Quartetts Nr. 1 – ein chromatisches Hineinschleichen in Motiv und Faktur, das aber hier viel zu schnell, fast hektisch gerät. Die erste melodische Geste wird vom Primarius zudem mit einem unnötigen Vibrato überlagert und verliert so jene prägende Gestalt, die für das gesamte Werk so entscheidend ist. – Viel seltener sind die zwei Sätze aus dem Jahre 1950 zu hören, die Ligeti gewissermaßen «vor Ligeti» geschrieben hat. Eine bemerkenswerte Zeitreise, die allerdings vom Parker Quartet (Naxos) und selbst vom Arditti Quartet (Sony) mit viel mehr Wärme begleitet wird.

György Ligeti. Streichquartett Nr. 1 «Metamorphoses nocturnes» (1953/54), Andante und Allegretto für Streichquartett (1950), Streichquartett Nr. 2 (1968)
Quatuor Diotima

Pentatone PTC 5187 061 (2022)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 1 von 5 in Michael Kubes HörBar #103 – Ligeti 100