27. Juli 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Igor Strawinsky Edition / Warner

Igor Strawinsky Edition / Warner
Igor Strawinsky Edition / Warner

Zu den wenigen verbliebenen «Majors» der Klassik gehört auch Warner mit all seinen Labels und deren prall gefüllten Archiven. Natürlich reiht man sich da nur allzu gerne in den «Boxen-Stopp» zu Strawinskys 50. Todestag ein. Die dazu produzierte 23 CDs umfassende Edition kann zwar keine Vollständigkeit beanspruchen, was das Œuvre angeht, und doch bietet sie viel mehr als andere: Zusätzlich finden sich auf zwei randvoll bespielten Scheiben mit Transkriptionen (einer Art «Anhang» des klingenden Werkkatalogs) neben den bekannten Arrangements von Sacre und Petruschka für Klavier (vom Komponisten selbst angefertigt) auch eines vom Feuervogel (von Guido Agosti) und weitere Bearbeitungen von Samuel Duskin oder Gregor Piatigorsky. Einem gewichtigen «Supplement» gleichen gar die drei letzten CDs mit historischen Einspielungen aus den Jahren 1928 bis 1938 – alle unter dem gestrengen Dirigat von Strawinsky selbst. Hier tun sich Welten auf: beim Vergleich eines den kompositorischen «Witz» unmittelbar aufnehmenden namenlosen Pariser Ensembles mit den sich seltsam steif und von den Noten befremdet zeigenden Berliner Philharmonikern, die sich hörbar durch das Jeu de cartes mühen (1938). Faszinierende Dokumente, die weit mehr als die Partituren erlebbar machen.

Im Übrigen hat man die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts reich bestückten eigenen Schallarchive gründlich durchforstet. Das zeigt sich bereits an den Namen der Dirigenten bei den ausgewählten Aufnahmen: manches aus den 60er Jahren, viele aus den 70ern und 80ern, manches aus den 90ern und nur einige Ergänzungen aus der Zeit nach der Jahrtausendwende. Da spiegelt sich etwas von der bewegten und seit geraumer Zeit zum Stillstand verurteilten Schallplattengeschichte. Andererseits: wenn derartig umfangreiche Archiv-Auswertungen gründlich vorgenommen und mit Sachverstand kuratiert werden, dann ist das ein Gewinn für alle. Gerne würde ich jedoch mehr über die Hintergründe erfahren; fast nie kommen die Kuratoren mit ihren Konzepten selbst zu Wort. Bei dieser Warner-Box jedenfalls fällt auf, dass im Booklet lediglich die einzelnen Werke, die entsprechenden Tracks und die Künstler genannt werden. Angaben zu den Aufnahmen finden sich nur auf dem Back-Cover der jeweiligen CD im Kleingedruckten – allerdings ohne Angaben zur ersten Veröffentlichung. Schade, denn hier wäre (mit ein wenig Mühe freilich) ein schöner Mehrwert möglich gewesen. Die Box bleibt damit im Niemandsland zwischen dem günstigen enzyklopädischen Schnäppchen für den, der alles dabeim haben möchte (doch nur wenig erfährt), und dem Kompendium für den Kenner, der zwar lustvoll auf Entdeckungsreise geht, hier aber wichtige Daten der Interpretationsgeschichte vermissen wird.

Fazit nach einer Woche mit Strawinsky: Es gibt schlichtweg nicht die eine Box, mit der man glücklich werden kann. Jede der Veröffentlichungen hat ihre ganz klaren Pluspunkte. Selten nur ist der direkte Vergleich von etwa einer Handvoll Einspielungen eines Werkes aus dem 20. Jahrhundert so leicht möglich, um unterschiedliche, manchmal gar konträre Perspektiven kennen zu lernen – so gesehen ein Glücksfall.

Igor Strawinsky Edition
Scherzo fantastique op. 3;
Fireworks op. 4;
The Firebird;
The Firebird Suite;
Petrushka;
Petrushka (1947 version);
The Rite of Spring;
Le Chant du Rossignol;
Pulcinella;
Suite No. 1;
Suite No. 2;
Les Noces;
Four Russian Peasant Songs;
Le Baiser de la Fée;
Apollon musagète;
Études for orchestra;
Symphony of Psalms;
Concerto in E flat for chamber orchestra «Dumbarton Oaks»;
Credo;
Ave Maria;
Jeu de cartes;
Symphony in C;
Danses Concertantes;
Four Norwegian Moods;
Circus Polka;
Scherzo a la Russe;
Symphony in 3 movements;
Concerto in D for string orchestra;
Greeting Prelude;
Agon «Ballet for Twelve Dancers»;
Pastorale;
Deux Poèmes de Paul Verlaine;
The Nightingale;
Renard;
L’Histoire du Soldat;
Oedipus Rex;
Perséphone;
The Rake’s Progress;
Three Songs from William Shakespeare;
Concerto for Piano & Wind Instruments;
Capriccio for Piano and Orchestra;
Violin Concerto in D;
Movements for Piano & Orchestra;
Pastorale;
Three Pieces for String Quartet;
Ragtime, for eleven instruments;
Three Pieces for Solo Clarinet;
Concertino for String Quartet;
Symphonies of Wind Instruments;
Octet for Wind Instruments;
Duo concertant;
Elegy, for solo Viola;
Ebony Concerto;
Concertino for twelve Instruments;
Double Canon (Raoul Dufy in memoriam);
Scherzo for Piano;
Piano Sonata in F sharp minor (1903/04);
Études for Piano op. 7;
Souvenir d’une marche boche;
Valse pour les enfants;
Étude pour Pianola;
Piano-Rag-Music;
Les Cinq doigts;
Piano Sonata (1924);
Tango;
The Firebird Suite (Transcription for solo Piano);
Three Movements from Petrushka (Transcription for solo Piano);
Petrushka (1911 version) (Transcription for two Classical Accordions);
Suite italienne (Transcription for Violoncelle and Piano);
The Rite of Spring (Transcription for Piano for hands);
Ragtime;
Suite italienne (Transcription for Violon and Piano);
Chanson Russe (Transcription for Violon and Piano);
Le Baiser de la Fée (Transcription for Violon and Piano);
Tango 1940 (Transcription for two Classical Accordions);

Historische Aufnahmen:
The Firebird (excerpts);
Petrushka (1911 version);
L’Histoire du Soldat: Concert Suite;
The Rite of Spring;
Symphony of Psalms;
Les Noces;
Capriccio for Piano and Orchestra;
Octet for Wind Instruments;
Pulcinella Suite; Duo concertant;
Jeu de cartes;
Three Pieces for String Quartet;
Ragtime, for eleven instruments;
Piano-Rag-Music;
Serenade in A for Piano;
Concerto for 2 Pianos;
Pastorale;
Berceuse from The Firebird;
Scherzo from The Firebird;
Danse Russe (from Pétrouchka);
Suite italienne: Serenata;
Scherzino;
Ah, joie, emplis mon coeur (from Le Rossignol);
Le Chant du Rossignol: Marche chinoise

Grace Bumbry, Natalie Dessay, Marie McLaughlin, Elisabeth Schwarzkopf, Dawn Upshaw, Violeta Urmana (Sopran), Marjana Lipovšek (Alt), Ian Bostridge, Jerry Hadley, Rolfe Johnson (Tenor), François Le Roux (Bariton), Robert Lloyd, Samuel Ramey, John Tomlinson (Bass), Grand Chœur de l’Université de Lausanne, Chœur de Radio-France, Choir of King’s College Cambridge, Adam Walker (Flöte), Michael Collins, Sabine Meyer (Klarinette), Gidon Kremer, Yehudi Menuhin, Itzhak Perlman, Maxim Vengerov (Violine), Lawrence Power, Tabea Zimmermann (Viola), Truls Mørk, Mstislav Rostropovich (Violoncello), Martha Argerich, Michel Béroff, Bruno Canino, Nelson Freire, Marcelle Meyer, Geoffrey Parsons, Beatrice Rana, Fazil Say, Lars Vogt (Klavier), James Crabb, Geir Draugsvoll (Akkordeon), Alban Berg Quartett, Ensemble Intercontemporain, Opéra national de Paris, Ensemble instrumental, Opéra National de Lyon, Philharmonia Orchestra, Philadelphia Orchestra, Oslo Philharmonic Orchestra, Orchestre National de France, Academy of St Martin in the Fields, Berliner Philharmoniker, Rundfunkchor Berlin, Scottish Chamber Orchestra, Rotterdam Philharmonic Orchestra, Los Angeles Chamber Orchestra, Bergen Philharmonic Orchestra, City of Birmingham Symphony Orchestra, New York Philharmonic, Bath Festival Orchestra, London Philharmonic Orchestra, Melbourne Symphony Orchestra, Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo, Orchestre de Paris, London Symphony Orchestra, London Sinfonietta, Ernest Ansermet, Pierre Boulez, Stephen Cleobury, James Conlon, Charles Dutoit, Eliahu Inbal, Hiroyuki Iwaki, Mariss Jansons, Dmitri Kitayenko, Sir Charles Mackerras, Sir Neville Marriner, Zubin Mehta, Sir Yehudi Menuhin, Riccardo Muti, Kent Nagano, John Nelson, Seiji Ozawa, Sir Simon Rattle, Mstislav Rostropovich, Jukka-Pekka Saraste, Igor Strawinsky, André Vandernoot, Franz Welser-Möst
Warner 190295140939 (1928–2019)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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