21. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Vinci / Gismondo (1727)

Vinci. Gismondo
Vinci. Gismondo

Wer bei Barockmusik vor allem an Kantaten, Konzerte und Sonaten denkt, der hat nur die eine Hälfte dieser Epoche vor Augen und Ohren. Denn neben den kontrapunktischen Künsten jener Zeit ist vor allem die Opera seria der wahre Motor des musikalischen Geschehens: gemessen an der Aufführungsdauer, an dem betriebenen Bühnenaufwand und dem ökonomischen Investment wie auch den teilweise bis heute bekannten Namen der bedeutendsten Protagonisten, Diven und Kastraten. Dass beim Libretto der Plot bevorzugt in der antiken Mythologie oder der großen Geschichte gesucht wurde, war der mit dieser Gattung verbundenen höfischen Repräsentation geschuldet. Damit ließ sich einem gekrönten Haupt ebenso leicht wie unverfänglich huldigen.

Jeder wollte also gefallen – der Librettist mit schmeichelnden Anspielungen, der Komponist mit affektgeladener Musik, der Widmungsempfänger wahlweise mit der dargestellten Stärke, Milde, Tugend oder auch Beständigkeit des Charakters. Insofern bildete die Oper in der Regel einen beziehungsreichen (in)offiziellen Staatsakt.

Davon zeugt auch die 1727 in Rom uraufgeführte Partitur von Gismondo. Re di Polonia – ein Werk von Leonardo Vinci (ca. 1690–1730), einem der wichtigsten Vertreter der Neapolitanischen Schule. Wie komplex die bei einem solchen Werk zu berücksichtigenden Hintergründe waren, zeigt der im Booklet beigegebene Essay von Boris Kehrmann auf, der die verschiedenen Schichten offen legt (leider aber anstrengend zu lesen ist, da die Schrift zu klein und die Zeilen zu lang sind). Hier wird offenbar, wie berechnend auf der allgemeineren Folie aus Mode, Lebensphilosophie und Tagespolitik vorgegangen wurde.

Max Emanuel Cenčić ist mit dieser Ausgrabung wieder einmal ein großer Coup gelungen: Die Komposition trifft den Kern des Geschehens und spult nicht bloß den Fundus an Topoi ab, die Interpretation zündet durch stimmliche Virtuosität und Gestaltungskraft. Dies gilt nicht allein für Cenčić selbst in der Titelrolle und den heller timbrierten und stimmlich klareren Yuriy Mynenko (Ottone), sondern mehr noch für die Sopranistinnen: Sophie Junker (Cunegonda) mit starkem Legato, Aleksandra Kubas-Kruk (Primislao) dramatisch präsent und Dilyara Idrisova (Giuditta) mit wundervoll beweglicher und warmer Stimme. Der eigentliche Star aber ist für mich das Orkiestra Historyczna unter der Leitung von Martyna Pastuszka. Mal zupackend forsch, mal verspielt lyrisch fließend, klanglich herausragend eingefangen. Dies gilt nicht weniger für Marcin Światkiewicz, der als «maestro al cembalo» mitlesend, denkend und ungekünstelt frei agiert. Ein großer Wurf!


Leonardo Vinci: Gismondo, Re di Polonia (1727)
Max Emanuel Cenčić (Countertenor), Yuriy Mynenko (Countertenor), Sophie Junker (Sopran), Aleksandra Kubas-Kruk (Sopran), Jake Arditti (Countertenor), Dilyara Idrisova (Sopran), Nicholas Tamagna (Countertenor), (oh!) Orkiestra Historyczna, Marcin Światkiewicz, Martyna Pastuszka

Parnassus 9120104870017 (2018)

 

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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