12. Dezember 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Keith Jarrett – The Old Country

Jarrett – The Old Country
Jarrett – The Old Country

Es ist schwer zu beschreiben, aus welchen Gründen es manchmal eine Auswahl von Live-Aufnahmen auf ein Album schaffen, andere dagegen nicht. Die Session, die Keith Jarrett, Paul Motian und Gary Peacock am 16. September 1992 «At The Deer Head Inn» in hinlegten, ist umfangreicher als es das Album von 1994 widerspiegelte. Dem alten Album wurde bereits der Charakter eines legendären Abends zugeschrieben und eine gewisse Magie.

Produzent Eicher und Jarrett haben sich entschieden, weiteres Material als «More form the Deer Head Inn» zu veröffentlichen.

Das neue Album aus alter Zeit ist erstaunlich. Auch hier ist das Triospiel außerordentlich in Balance, Mood und Interaktion und erzeugt diesen ästhetischen Reichtum, an dem man sich nicht satthören kann. Zugleich versagt sich hier meine Fähigkeit, exakt in Worte zu fassen, wie hier das Spiel der drei ineinandergreift; so selbstverständlich und doch voller Vielfältigkeit im Ausdruck ist es. Das ist leicht daher gesagt und wenig erklärend. Im Prinzip verdiente jedes der acht Stücke eine eigene ausführliche Analyse.

Ich habe es ja mit den Balladen wie bei Nr. 2: «I Fall In Love Too Easily». Die beginnt  mit einer langen akkordischen Einleitung auf den rhythmischen Geistesschlag eines Chorals. Das hat hier die Folge, das darin Elemente des Standards von Jule Styne und Sammy Cahn völlig versteckt eingewoben werden. Die Harmonik schwebt in dieser Phase so vollkommen licht wie komplex (und zum Heulen schön), bis der Standard zusammen mit Schlagzeug und Bass schließlich frei herausfindet. Paul Motian an den Cymbals und der Snare umarmt diese herausgeschälte Musik. Im Verlauf arbeitet sich Jarretts Improvisation vom Duktus der Sprache in eine fließende, stufenweise immer rascher sich verdichtende Kette von Läufen – aus der er Motivsplitter als Ideen für sich auskettet und dem Lauf der Dinge einen anderen Schwung verleiht. Wenn Peacock selbst zum Solo übergeht, ergänzt Jarrett unnachahmlich höflich dessen Spiel, das er wie bei einem Improvisations-Crossfade zu einem neuen Impulsspiel nutzt, in welchem dann Paul Motian am Schlagzeug zum initiativ mitagierenden Partner wird. Das Nachspiel führt an den Anfang zurück, ohne dessen harmonische Komplexität zu wiederholen, sondern wird abgeklärt licht. Es leitet über in die Leichtigkeit seines Nachklangs in einem selbst.

Faszinierend auch das letzte Drittel von «The Old Country» in der Weise wie hier das Ende herausgezögert wird und eigentlich in der Sache selbst nichts passiert und man das Gefühl haben könnte, das Trio habe Schwierigkeiten, das Ende zu finden. Es hört einfach nicht auf, man tritt auf der Stelle und so reiht sich eine Schlussphrase an die nächste, geradezu verschwenderisch mit der Zeit umgehend – bis es dann endlich doch zum Abwurf kommt.

Ich habe es nicht so mit der Magie und der Legendenbildung. Es ist einfach das zweite Album from «At The Deer Head Inn» als ein musikalischer Glücksfall, an dem nun durch dessen Veröffentlichung auch weitere Teile der Menschheit Freude haben könnten. Für weitere Töne wenden Sie sich an den Plattenhändler Ihrer Wahl.


Keith Jarrett – The Old Country – More from At The Deer Head Inn [2024]

  • Keith Jarrett – piano
  • Paul Motian – drums
  • Gary Peacock – bass

Live September 1992, Deer Head Inn

ECM 2828 (VÖ: 8.11.2024)

Autor

  • Martin Hufner. Foto: Kurt Hufner

    Martin Hufner ist Musikjournalist, Musikwissenschaftler, Blogger. Er betreut nebenbei die Online-Redaktion der neuen musikzeitung.

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hoerbar_nmz

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