12. Dezember 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Pierre Boulez / Arnold Schönberg

Pierre Boulez / Arnold Schönberg
Pierre Boulez / Arnold Schönberg
Wenn es schon zu einem 150. Geburtstag keine aktuelle Gesamteinspielung gibt, dann werden eben die Altbestände befragt. So heuer bei Arnold Schönberg – und damit in deutlicher diskographischer Abgrenzung zu Mozart, Beethoven sowie (überraschenderweise) Strawinsky. Auch das Label Sony lebt von der Erbschaft oder dem Ankauf alter Archive und legendärer Aufnahmen, in diesem Fall der Einspielungen aus den 1970er und 1980er Jahren bei der Columbia unter der Leitung von Pierre Boulez. Diese Aufnahmen prägten vermutlich eine ganze Generation – mich eingeschlossen. Präzise, nüchtern, analytisch, pointiert, aber auch mit einer gewissen überkontrollierten Gefühllosigkeit wurde zwar nicht das gesamte, aber doch ein entscheidender Teil des Schönberg’schen Œuvres auf Band gebannt. Schon damals hätte man Fragen stellen können – aber es war eine andere Zeit.

Aus heutiger Sicht erscheint mir die Wiederbelebung dieser Aufnahmen etwas paradox. Boulez, der sich beeilte, Schönberg auch im übertragenen Sinne für tot zu erklären, strebte zwei Jahrzehnte später als einflussreicher Komponist und Interpret mit diesen Produktionen (gewollt oder ungewollt) eine gewisse Deutungshoheit in einer Weise an, als hätte sich der Komponist Boulez zunächst vom Interpreten distanziert, um ihn dann in einem weiteren Schritt zu prägen. Die anfängliche Faszination für diese Aufnahmen ist mit den Jahren einer gewissen Skepsis gewichen. Kann man die Erwartung nicht ganz anders, wie aus dem 19. Jahrhundert kommend, interpretieren? Und muss der Pierrot derartig fremd klingen? Dass einige Werke Schönbergs schon damals nicht aufgenommen wurden, kann heute als eine Form der Kanonisierung aufgefasst werden. Sieht man die Einspielungen (und ihre Wiederveröffentlichung) als Dokumente an, so enttäuscht die Edition gerade in diesem Punkt. Originalcover sind immer schön. Aber wo bitte bleibt das originale Booklet, wenn die Werkeinführung (und die Singtexte) nicht zufällig auf dem Backcover abgedruckt wurden? Dass im Beiheft der aktuellen Ausgabe lediglich ein Essay von Boulez aus dem Jahr 1974 (aus Die Welt, das ist wahrlich lange her) abgedruckt wird, ist ein Armutszeugnis und zeugt von einer unkuratierten, billigen Lieblosigkeit.

Pierre Boulez conducts Arnold Schoenberg. The Columbia and Sony Recordings
Arnold Schönberg. Gurre-Lieder für Soli, Sopran, Chor und Orchester; Moses und Aaron (Gesamtaufnahme); Pierrot Lunaire op. 21; Verklärte Nacht op. 4 (für Streichorchester); Ein Überlebender aus Warschau op. 46; Variationen für Orchester op. 31; Fünf Stücke für Orchester op. 16; Eine Begleitmusik zu einer Lichtspielszene op. 34; Serenade op. 24; Suite op. 29; Lied der Taube aus den Gurreliedern (Fassung für Kammerensemble); Ode to Napoleon Buonaparte op. 41; Oratorium „Die Jakobsleiter“; Erwartung op. 17; Die glückliche Hand op. 18; Kammersinfonie Nr. 1 op. 9; Kammersinfonie Nr. 2 op. 38; Drei Stücke für Kammerorchester; Vier Romanzen op. 22; Suite op. 29; Verklärte Nacht op. 4 (für Streichsextett); Friede auf Erden op. 13; Kol Nidre op. 39; Drei Deutsche Volkslieder op. 49; Zwei Kanons nach Goethe; Drei Deutsche Volkslieder; Vier Chöre op. 27; Drei Satiren op. 28; Sechs Männerchöre op. 35; Dreimal Tausend Jahre op. 50a; Psalm 130 op. 50b; Moderner Psalm op. 50c; Alban Berg: Drei Sätze aus Lyrische Suite (für Streichorchester)
Günter Reich (Erzähler), David Wilson-Johnson (Erzähler), Jane Manning (Sopran), Janis Martin (Sopran), Mady Mesplé (Sopran), Marita Napier (Sopran), Jessye Norman (Sopran), Felicity Palmer (Sopran), Ortrun Wenkel (Sopran), Yvonne Minton (Mezzosopran), Gillian Knight (Alt), Helen Watts (Alt), Kenneth Bowen (Tenor), Richard Cassilly (Tenor), Anthony Rolfe Johnson (Tenor), Philip Langridge (Tenor), Ian Partridge (Tenor), Jess Thomas (Tenor), John Winfield (Tenor), Roland Hermann (Bariton), John Noble (Bariton), Michael Rippon (Bass-Bariton), John Shirley-Quirk (Bass-Bariton), Richard Angas (Bass), Paul Hudson (Bass), Siegmund Nimsgern (Bass), Denis Wicks (Bass), Michel Debost (Flöte), Anthony Pay (Klarinette), Pinchas Zukerman (Violine, Viola), Lynn Harrell (Violoncello), Daniel Barenboim (Klavier), BBC Chorus, BBC Singers, Orpheus Boy’s Choir, London Philharmonic Choir, BBC Symphony Orchestra, Ensemble InterContemporain, New York Philharmonic Orchestra, Pierre Boulez

Sony 19658831502 (1974–1986)

HörBar<< Rafael Payare / Pelleas und Melisande

Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

    View all posts
hoerbar_nmz

Der HörBar-Newsletter.

Tragen Sie sich ein, um immer über die neueste Rezension informiert zu werden.

DSGVO-Abfrage*

Wir senden keinen Spam! Erfahre mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Teil 5 von 5 in Michael Kubes HörBar #139 – Schönberg 150

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.