Was für eine Intensität. Benjamin Appl denkt und singt Schubert Winterreise vom ersten Ton an als ein Psychogramm des Wanderers, der seine Emotionen, sein Innerstes auf den Lippen trägt. Puristen des notierten Urtextes oder des gepflegten Kunstliedes mögen sich dabei an manchen Stellen stören, wenn Appl bisweilen Töne zerbrechlich wirken lässt, unvermittelt in Sprechgesang verfällt, in sich versinkt oder aufbegehrt. Auch James Baillieu setzt am Klavier immer wieder eigene Akzente in Artikulation und Phrasierung. Ist diese Winterreise womöglich allzu frei in der Gestaltung?
Wie so oft im Leben kommt es auf die Perspektive an. Statt konservativ die Stirn zu runzeln, sollte man eher das Ganze überblicken und nach dem Kern der Interpretation suchen. Und da zeigt sich Appls Deutung als erstaunlich schlüssig, gerade in ihrer Subjektivität, die hinter den Worten in die Seele blickt, in der sich Abgründe auftun. Manieristisch ist dies nicht, auch wenn mitunter die Gefühlstemperatur von Takt zu Takt wechselt (Auf dem Flusse). Für den leidenden jungen Wanderer geht es in den Müller’schen Dichtungen freilich um alles; bei ihm sind Liebe und Wut, Wärme und Kälte nur einen Atemzug voneinander entfernt. Gerade der Fühlingstraum wie auch die Post lassen Einblick nehmen in ein aus den Fugen geratenes Leben. Hans Zender hat das alles bereits 1993 kompositorisch interpretiert, Appl nun geht einen vergleichbaren sängerischen Weg und erinnert mich darin ein wenig an Mikael Samuelson und dessen Realisierung (1998) von Allan Petterssons Barfotasånger (1945). – Und der Leiermann? Hier werden Vorschlag und Hauptnote der Bordunbegleitung gegen den Notentext bewusst simultan angeschlagen –für Appls Wanderer ist die Realität längst dissonant geworden.
Franz Schubert. Winterreise D 911
Benjamin Appl (Bariton), James Baillieu (Klavier)
Alpha ALP 854 (2021)