Seit der ultimativen Sibelius-Gesamteinspielung beim schwedischen Label BIS, die auch die verschiedenen Fassungen der Sinfonien einschloss (wie überhaupt «every note he ever wrote»), war es seltsam ruhig um Sibelius geworden – so als wäre das letzte Wort bereits gesprochen worden. Dabei half diese komplette Werkschau überhaupt erst einmal vieles zu verstehen und sich eigene Gedanken zu machen. Dass nun Klaus Mäkelä mit seinen 26 Jahren und dem Oslo Philharmonic eine weitere vollständige Sicht auf die Sinfonien wagt, ist daher nicht nur an der Zeit, sondern zeigt auch, dass noch immer neue Facetten zu entdecken, noch immer unterschiedliche Zugriffe möglich sind. Die zwischen Februar und Juni 2021 produzierte Einspielung darf dabei einen sicheren Platz in der Interpretationsgeschichte beanspruchen. Die durch Absagen zusammengeschrumpfte Konzertsaison erlaubte dem Orchester eine so intensive Konzentration auf die eigentümliche Sprache des großen Finnen, dass alles wie aus einem Guss erscheint – oder: einmal so vollkommen durchgehört und durchgeprobt, wie es im alles andere als «normalen» Alltag eines Orchesters im 21. Jahrhundert kaum mehr möglich ist. Hinzu kommt eine heute nur noch in wenigen Ausnahmen so zu hörende phänomenale Akustik, die an die besten Decca-Produktionen früherer Zeiten anknüpft: in einer trefflichen Balance zwischen durchhörbarer Präsenz und kompaktem Sound.
Hier werden die musikalischen Ideen und Ansätze von Klaus Mäkelä geradezu kongenial eingefangen: mal die Herbheit der Klänge saftig aufnehmend (ma non troppo), mal mit dem breit malenden Pinsel das gesamte Spektrum ausfüllend. Denn Mäkelä analysiert nicht, er breitet den musikalischen Verlauf als eine Erzählung aus, der man sich nur allzu gerne hingibt – und an keinem Punkt enttäuscht wird. Das gilt für die heiklen Terz-Koppelungen der Holzbläser, dem rufenden Klang der Hörner, den mal kantigen, mal pulsierenden Akzenten des Schlagwerks und den vielfach herausgelösten Violinen. Man spürt geradezu, wie sich die Musiker die eigenartige, gelegentlich auch struppige Faktur erarbeitet haben. An Ende musste sie nicht bloß bewältigt, sondern konnte aus den Tiefen heraus gestaltet werden. Das macht sich vor allem in jenen Passagen bemerkbar, in denen Sibelius seine Motive und Themen erst generiert, bei denen in reduziertem Tempo der Verlauf verklingt oder an jenen Stellen, in denen der Satz klanglich aufbricht. Zudem ist es auch sehr sympathisch, dass die Sinfonie Nr. 1 als vorletzte (!) eingespielt wurde – was sich auch in den fraglos hart erarbeiteten, wundervoll weichen Basstönen des Scherzos spiegelt. – Und dennoch stören ein paar Kleinigkeiten. Die vier CDs sind chronologisch angelegt, so dass man bei der ein Paar bildenden 6. und 7. Sinfonie die Scheibe wechseln muss. Am Ende sind (mehr als nur ein Bonus) drei späte, seltsam fremdartige Fragmente beigefügt, zu denen aber kaum etwas im Booklet zu erfahren ist. Andrew Mellor standen dort ohnehin nur drei Seiten zur Verfügung, um etwas Substanzielles zu den Werken und der Intention des Dirigenten (mit O-Ton) zu schreiben – fraglos zu wenig Platz für solch eine gewichtige Produktion. Kompositionsdaten sind übrigens nirgends angegeben.
Jean Sibelius. Sinfonie Nr. 1 e-Moll op. 39, Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 43, Sinfonie Nr. 3 C-Dur op. 52, Sinfonie Nr. 4 a-Moll op. 63, Sinfonie Nr. 5 Es-Dur op. 82, Sinfonie Nr. 6 d-Moll op. 104, Sinfonie Nr. 7 C-Dur op. 105, Tapiola op. 112, Drei späte Fragmente (HUL 1325, 1236/9, 1327/2)
Oslo Philharmonic, Klaus Mäkelä
Decca 485 2256 (2021)