21. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Ukrainian Preludes / Jascha Nemtsov

Ukrainian Preludes / Jascha Nemtsov
Ukrainian Preludes / Jascha Nemtsov
In der Kürze liegt die Würze, sagt man. Ob das aber für jedes Prélude gilt? Die Musikgeschichte des 19. und des 20. Jahrhunderts ist voll von solch kurzen Stücken. Sie basieren (meist) auf einer einzigen Idee, beschreiben in der Regel genau einen Affekt und lassen sich sowohl einzeln wie als Zyklus vergleichsweise unproblematisch rezipieren – auch wenn die eine oder andere Nummer von der Tonsprache her ungewohnt erscheinen mag. Auf diesem Album sind es drei Prélude-Zyklen, die Jascha Nemtsov zum Teil erstmalig eingespielt hat; sie dauern jeweils zwischen 44 Sekunden und schon beträchtlichen dreieinhalb Minuten.

Die Werke, Sammlungen, Zyklen stammen von Mykola Silvansky (1916–1985), Matvey Gozenpud (1903–1961) und Evgeniya Yakhnina (1918–2000) – Komponist:innenn, an deren Lebensläufen sich das düstere Panorama der Geschichte des 20. Jahrhunderts spiegelt: Mykola Silvansky wurde in der Nähe von Charkiv geboren, studierte Klavier in Leningrad und Moskau und war zuletzt Professor am Konservatorium in Kyjiv; Matvey Gozenpud erblickte in Kyjiv das Licht der Welt, wurde dort später Professor für Komposition, floh aber vor den antisemitischen Pogromen ab 1948 nach Kasachstan und ging später an das neu gegründete Konservatorium nach Nowosibirsk; auch das Leben der in Charkiv geborenen Evgeniya Yakhnina erlebte 1948 einen Einbruch, sie verlor ihre Anstellung und ihre Existenzgrundlage. Von all dem ist in den jeweils wenigen Takten naturgemäß wenig zu spüren. – Interpretatorisch sind die Werke bei Jascha Nemtsov in guten Händen, die Aufnahme selbst aber ist technisch leider unter dem Durchschnitt. Der nicht näher bezeichnete Flügel wurde nicht gut in Szene gesetzt, man hört die Pedalmechanik pumpen (etwa in Track 9), die Akustik wirkt seltsam topfig. Auch der Redaktion des Booklets wurde wenig Sorgfalt gewidmet (Zeile 3 des Essays). All dies sollte einer musikalischen «Ausgrabung» nicht unnötig im Wege stehen.

Mykola Silvansky. 24 Preludes; Matvey Gozenpud. 12 Preludes; Evgeniya Yakhnina. 6 Preludes
Jascha Nemtsov (Klavier)

hänssler classics HC 24044 (2024)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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