4. Dezember 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Thomas de Hartmann / Konzerte

Thomas de Hartmann / Konzerte
Thomas de Hartmann / Konzerte
Im Nordosten der Ukraine, in der Oblast Sumy, in eine aristokratische russische Familie hineingeboren, entwickelte sich Thomas de Hartmann (1885–1956) im Laufe der Jahre und Jahrzehnte zum Weltbürger. Nachdem er seine militärische Ausbildung in St. Petersburg abgebrochen hatte (er wurde nebenher von Anton Arensky und Sergei Tanejew unterrichtet), wandte er sich 1908 nach München und lernte dort die Künstler des Blauen Reiters kennen: An dem legendären Almanach war er selbst mit einer Übersetzung und einem eigenen Beitrag (Über Anarchie in der Musik) beteiligt. Außerdem schrieb er die Musik für Wassily Kandinskys Bühnenwerk Der gelbe Klang, während Gabriele Münter ihn portraitierte. Später waren de Hartmann und seine Frau Anhänger des Esoterikers Georges Gurdjieff, der in der Nähe von Fontainebleau ein Institut für die harmonische Entwicklung des Menschen unterhielt. 1929 kam es zum Bruch, den Zweiten Weltkrieg verbrachte das Paar in Frankreich «unter dem Radar», 1950 erfolgte die Auswanderung nach New York.

Tatsächlich wird man den Namen Thomas de Hartmann eher aus dem Umfeld Gurdjieffs kennen, dessen Melodien er für die Nachwelt festhielt. Seine eigenen Kompositionen werden erst seit wenigen Jahren wiederentdeckt – insofern kann man dem Titel dieses Albums nur zustimmen. Wer das Booklet genauer studiert, stößt auf eine interessante Information: Das nun bei Pentatone erschienene Album ist bereits die vierte von insgesamt sechs geplanten Produktionen – nur dass die anderen bei Toccata Classics (zwei Alben mit Orchesterwerken) und bei Nimbus erschienen sind. Ohne weitere Angaben oder konkrete Querverweise ist das eine gewisse (vermeidbare) Hürde für viele interessierte Hörer, zumal auch die entsprechende Seite des Thomas de Hartmann Projects nicht ganz eindeutig ist. Bleibt die Musik selbst – und die ist wirklich erstaunlich. Die Partituren de Hartmanns knüpfen an die Sprache der Spätromantik an, zeigen aber einen ganz eigenen, unverwechselbaren Tonfall, der auch mit einigen Exotismen gespickt ist. So scheint das viersätzige (!) Violinkonzert eine Geschichte zu erzählen, das Cellokonzert wirkt fast cineastisch. Kein Wunder, dass der so veranlagte Komponist später unter Pseudonym unter anderem zahlreiche Filmmusiken schrieb. Man merkt, dass sowohl die Solisten, die Dirigent:innen als auch die beiden Orchester von den Kompositionen überzeugt sind. Eine echte Entdeckung.

Thomas de Hartmann. Rediscovered
Thomas de Hartmann. Konzert für Violine und Orchester op. 66 (1943); Konzert für Violoncello und Orchester op. 57 (1935)
Joshua Bell (Violine), Matt Haimovitz (Violoncello), INSO-Lviv Symphony Orchestra, MDR Sinfonieorchester Leipzig, Dalia Stasevska, Dennis Russell Davies

Pentatone PTC 5187 076 (2022, 2024)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 2 von 5 in Michael Kubes HörBar #137 – Ukraine