Dass es bei Glinka nur «Stücke» sind und keine «Sonaten», darf angesichts der musikästhetischen Situation in Europa wie auch der musikalischen Infrastruktur im damaligen Zarenreich nicht verwundern. So oder so war es von der Irischen See bis zur Donau in den 1830er und 1840er Jahren um die Sonate nicht zum Besten bestellt, und in Moskau wie St. Petersburg spielte sich das Musikleben zwischen Oper und Salon ab; ein öffentliches Konzertleben (auch mit sinfonischen Werken) war noch nicht etabliert. Und so entfaltet Viacheslav Shelepov mit viel Feingefühl einen ganzen Fächer verschiedener Stile, Topoi und Gattungen, mit denen sich Glinka hörbar musikalische Orientierung zu verschaffen versuchte – zwischen strenger Fuge, klassischen Variationen und ganz auf der Höhe der Zeit stehenden Mazurka-Klängen à la Chopin. Es ist dem formidablen Spiel von Viacheslav Shelepov und dem sehr schön intonierten Erard-Flügel aus dem Jahre 1846 zu verdanken, dass dieses Album am Ende größer und interpretatorisch gewichtiger erscheint als die Werke selbst. Den Grund dafür liefert bereits Boris Filanovsky in seinem Booklet-Essay mit Blick auf Shelepov: «Es ist, als ob er diese Stücke selbst komponieren würde.»
Glinka revisited
Michail Glinka. Variationen über die Romanze «Die Nachtigall» von Aljabjew; Nocturne Es-Dur; Walzer Es-Dur (1839); Mazurka F-Dur (1835); Souvenir d’une mazurka; Nocturne f-Moll «La séparation«; Variationen über ein Schottisches Thema; Variationen über ein russisches Lied; Gebet; Fuge D-Dur; Barcarolle G-Dur; Variationen über ein Thema aus der Oper «I Capuleti e i Montecchi» von Bellini
Viacheslav Shelepov (Erard-Fortepiano 1846)
Piano Classics PCL 10258 (2022)
- Hans Seeling / Karl-Andreas Kolly
- Glinka revisited / Viacheslav Shelepov
- Karol Rathaus / Daniel Wnukowski
- Franz Liszt / Gabriel Stern
- Without Borders / Can Çakmur