
Die Adaption und Verwendung historischer Musik aus dem klassischen Musiksektor im Jazz sind keine Seltenheit. Wenn das Art Ensemble Of Chicago da mal sich mit Monteverdi beschäftigt beispielsweise und bei der Gelegenheit ein Ruppigkeit entfaltet, die als Bearbeitung und als Aktualisierung verstehbar wird. Aber es gibt natürlich auch diese weichsüppelnden Anwandlungen vornehmlich bei Musik aus dem Barockzeitalter. Die Händels, Bachs (inklusive Söhnen) oder Telemänner sind so gut geeignet, da sie selbst zur Realisierung Improvisationsfähigkeiten verlangen. Aber das lassen wir mal jetzt außer Acht. Beziehungsweise nehmen wir es genau.
Perlen Alter Musik hat der Pianist Benjamin Schaefer im Quartett mit dem Saxophonisten Christian Weidner, dem Bassisten Sebastian Gramss und dem Schlagzeuger Tilo Weber bei Georg Philipp Telemann und bei Carl Philipp Emanuel Bach aufgetan. Perlen? Irgendwie schon, ja. Aber auch Unscheinbareres, das erst im Quartettspiel seine spezielle Beleuchtung erhält und in der Vielfalt der eingesetzten Figuren musikalischen Denkens. Wie zum Beispiel bei der Fantasie für Violine solo auf Nummer 1 des Albums, das wahrscheinlich alle kennen, die traditionell Violine zu spielen gelernt haben. Dann mach‘ aber aus 1 eine 4, übersetze es in irreguläre Agogik, harmonisiere es neu, beziehungsweise überhaupt erst. Das sind enervierende Prozesse, die alle gleichzeitig und aber zeitlich sukzessiv starten. Und dann in aktueller Schönheit im Live-Prozess erscheinen!
Das funktioniert bei den Kompositionen von Telemann deutlich besser, weil diese viel mehr Räume für eine Ausweitung der improvisatorischen Gefechtszonen eröffnen. Und es ist bei dem Bach-Sohn schwieriger, weil diese präziser sein musikalisches Material artikuliert hatte und weil bei seinen Kompositionen gleichzeitig ein Reduktionsprozess stattfinden muss. Wie hält man seine Empfindsamkeiten aus und lädt sie neu auf? Das ist extrem kompliziert, kein Selbstläuferdings, herausfordernd wie auf Track 6 «Sinfonie D-Dur, 1. Satz». Da muss man die Musik im neuen Genre im übertragenen Sinn auf links drehen. Oder wie bei Nummer 8 «Sinfonie F-Dur, 1. Satz» zu ekstatisch-apokalyptischen Rauschsituationen zu gelangen und die pianistischen Register in jeder Richtung zu ziehen. Das nimmt einen mit!
Es gibt auch ein ganz eigenes Stück mit dem titelgebenden Namen «Irregular Pearls», einer in diesem Umfeld hochverdichteten Gruppenimprovisation, bei dem insbesondere im rhythmischen Bereich von Weber und Gramss eine musikalische Welt entsteht, die so herrlich sprudelt und Blüten treibt, die den anderen Titeln im barocken Tonfall fremd bleiben muss. Das nahe Fremde.
Und wie dramaturgisch geschickt, daran unmittelbar eine weitere Telemann-Komposition mit einer schlafenden Thetis anzuschließen und was für ein Genuss dem wollenen Geknülle des Schlagzeugers Tilo Weber zu folgen, der später den Wechsel in den schreitenden Modus vollzieht. Berührend.
Die vier Musiker machen es sich nicht gerade leicht. Das danke ich als Hörer!
Benjamin Schaefer – Irregular Pearls [2025]
- Christian Weidner – as
- Benjamin Schaefer – p
- Sebastian Gramss – b
- Tilo Weber – dr
- recorded live @ Hanseatische Materialverwaltung, Hamburg, Germany on Sep 20, 2022 by Tilman Döhne
- for the records (FTR 004) (VÖ 21.03.2025)