Es mag noch immer überraschen, dass Mitte des 20. Jahrhunderts im Norden Europas keine radikalen ästhetischen Brüche zu verzeichnen waren, obwohl auch dort der Zweite Weltkrieg seine Spuren hinterlassen hatte. Dies gilt nicht nur für Schweden, sondern auch für Norwegen und hier insbesondere für Johan Kvandal (1919–1999), der neben seiner schöpferischen Tätigkeit in Oslo als Organist und Musikkritiker arbeitete. Seine nun auf einem Album neu und vollständig eingespielten Streichquartette geben Einblick in ein vollkommen unabhängiges Schaffen, das seine Wurzeln in der spätromantischen deutschen Schule in Leipzig (Karl Marx) hat und sich durch Erfahrungen wie Horizonterweiterungen in Paris (Nadia Boulanger) und Berlin (Boris Blacher) mehr oder weniger veränderte. Hilfreich ist daher der hier gewählte chronologische Durchgang: Zunächst steht der Kontrapunkt im Vordergrund, so bei einer Fuge (1946) und dem von fugierten Passagen substanziell durchzogenen Streichquartett Nr. 1 (1954), dessen Finale (und hier wirkt einmal mehr die geschichtliche Tiefe der Gattung) mit seinen vielfachen Wechseln der Faktur neben Bach-Anklängen vor allem an den letzten Satz in Mozarts G-Dur-Quartett KV 387 erinnert. Davon abgesehen: Ein Werk für das Repertoire!
Strenger und konzentrierter wirkt das Streichquartett Nr. 2 (1966), das satztechnisch zwar alte Modelle aufgreift und neu denkt, in dem aber auch die von Kvandal favorisierte «freie moderne Tonalität» zu griffigen, auch über längere Verläufe wirkenden Spannungsbögen fähig ist. Der tragische Tonfall bleibt dabei immer eindeutig (und enthält sich der bei Schostakowitsch omnipräsenten Doppelbödigkeit). Wie ein erfrischendes Scherzo folgen die beiden norwegischen Tänze (1976), die mit ihrem Rückgriff auf Halling und Springdans (wie auch auf Edvard Grieg) gar nicht in ihre Zeit passen wollen – und vielleicht gerade deshalb so sympathisch anmuten. Ein weiterer zeitlich großen Schritt ist es zum Streichquartett Nr. 3 (1983), das bei dem fast zwei Jahrzehnte älteren gedanklich anschließt, formal aber geradezu klassizistisch und tonal noch gebundener angelegt ist und vereinzelt volksmusikalische Elemente durchscheinen lässt. – Die in diesen Werken präsentierte kompositorische Unabhängigkeit Kvandals verblüfft. Dazu trägt auch die makellose Interpretation des Engegård Quartet bei. Harmonik, Linien, Verlauf, Form und Emotionen sind bis in Detail rhetorisch ausgehört und überzeugen auch an den heiklen Scharnierstellen. Eine bestmögliche Produktion. Empfehlung!
Johan Kvandal. Complete String Quartets
Fuge (1946); Streichquartett Nr. 1 op. 11 (1954); Streichquartett Nr. 2 op. 27 (1966); Zwei norwegische Tänze op. 44 (1976); Streichquartett Nr. 3 op. 60 (1983)
Engegård Quartet
Lawo LWC 1253 (2021)