Wer wohl bei dieser Produktion auf die Idee kam, den Untertitel 100 Years of Radio hinzuzufügen? Weder die eingespielten Kompositionen haben dazu einen Bezug, noch taucht das Wort «Radio» oder «Rundfunk» im ausführlichen Booklet-Essay auf. Der Hoax geht sogar weiter: Das Datum «1923» (gemeint ist der 29. Oktober 1923) bezieht sich allein auf die erste für Privatpersonen bestimmte Live-Übertragung in der Weimarer Republik. Blickt man jedoch auf Europa, wäre auf die BBC zu verweisen, die bereits am 14. November 1922 (!) auf Sendung ging. Zwischenfazit: Man muss nicht auf jeden vorbeifahrenden Zug aufspringen. – Aber auch mit den eingespielten Werken ist es nicht ganz einfach: Alban Berg schrieb sein Streichquartett bereits 1910; es wurde 1923 auf dem Musikfest der IGNM uraufgeführt. Die Fünf Stücke für Streichquartett von Erwin Schulhoff hingegen wurden 1923 komponiert, erklangen aber erst 1924 bei der IGNM. Ebenfalls aus dem Jahr 1923 stammen das Streichquartett des alternden Leoš Janáček wie auch das Movement des jungen Aaron Copland (das aber erst 1983 den Weg in die Öffentlichkeit fand). Dass man bei Paul Hindemith, einem der wichtigsten Protagonisten jener Zeit, ausgerecht auf Minimax verfiel (ein spaßhaftes Repertorium für Militärmusik, das seine Wirkung eher unter freiem Himmel entfaltet), ist fatal. Viel charakteristischer für die Zeit und das in den Fokus genommene Jahr wäre das Streichquartett op. 32 gewesen…
Dass im beigefügten Essay das IGNM-Fest (Salzburg 1923) im Zentrum steht, ist gut nachvollziehbar. Wenn das Motto des Albums auch dramaturgisch konsequent durchdacht worden wäre, so hätten teilweise Werke anderer Komponisten aufliegen müssen, die nicht minder von Bedeutung sind und gerade die in diesem Jahr versammelte Vielfalt dokumentieren: Krenek (Nr. 3), William Walton (Nr. 1), Strawinsky (Concerto), Hába (Nr. 2, op. 7, im Vierteltonsystem), Milhaud (Nr. 4, op. 46). Die nun einmal ausgewählten Partituren passen jedoch vom Ausdruck her zum Interpretationsstil des Schumann Quartetts und seinem großen, fast sinfonischen Gestus. Dabei gehen ironische Zwischentöne verloren (Schulhoff); Hindemiths Minimax gerät zu «souverän» und verliert dabei seinen improvisatorischen Charakter (ja, das Werk ist sehr schwer angemessen umzusetzen). Mich überzeugen eher die Interpretationen der Werke von Berg und Janáček: herb aufgeraut, dennoch reich an Farben und mit spürbarer Intensität – aber leider auch mit dem für die Schumänner so typischen Überdruck, mit dem Struktur und Faktur beim Hörer geradezu einfräst werden. Eine Geschmacksfrage.
1923 – 100 Years of Radio
Leoš Janáček. Streichquartett Nr. 1 «Kreutzer-Sonate»; Aaron Copland. Movement; Paul Hindemith. Minimax; Alban Berg. Streichquartett op. 3; Erwin Schulhoff. Fünf Stücke für Streichquartett
Schumann Quartett
Berlin Classics 0302968 BC (2023)