Dass die Musik von Thomas Selle (1599–1663) so selten gespielt bzw. gesungen wird, hat verschiedene Gründe. So haben sich zwar schon seine Zeitgenossen sehr anerkennend gegenüber dem Komponisten und seinem Schaffen geäußert; einer weiteren Rezeption stand allerdings die vielfach nur handschriftliche Überlieferung der Werke entgegen (und dies bis heute). Dabei hatte er seit 1641 in der freien Hansestadt Hamburg eine auch organisatorisch wichtige Position inne, die im 18. Jahrhunderts dann repräsentativ durch Georg Philipp Telemann und Carl Philipp Emanuel Bach bekleidet wurde. Es mag gleichwohl überraschen, dass Selle, in Leipzig als Thomaner ausgebildet, 1624 den Sprung in die entfernten Schleswig-Holsteinischen Herzogtümer wagte – zunächst nach Husum (als Lehrer), dann nach Wesselburen (als Schulrektor) und schließlich nach Itzehoe (als Kantor).
In Hamburg standen ihm endlich an den Kirchen der Stadt wie auch mit der Ratsmusik exzellente Kräfte zur Verfügung. Von seinen zahlreichen Werken hat sich über fast 400 Jahre hinweg ein beträchtliches Korpus erhalten (ein Glücksfall!), darunter auch die Johannes-Passion von 1643. Sie steht vollkommen auf der Höhe ihrer Zeit, darüber hinaus hat Selle erstmals reflektierende Intermedien zwischen die einzelnen Teile eingeflochten und damit den Passionsbericht erweitert. Erstaunlich ist zudem die opulente Besetzung des Instrumentalensembles, bei dem (wie zeitüblich) einzelnen Personen und Soliloquenten bestimmte Instrumente und damit auch Farben zuordnet werden (dem Evangelisten die Gamben, Jesus die Violinen etc.). Auch scheint Selle über die neuen Entwicklungen in Italien informiert gewesen zu sein… Und so stellen sich (wie so oft) auch beim Hören mehr Fragen, als sich Antworten finden lassen. Der sehr unprätentiös gestalteten Interpretation steht eine fast schon kammermusikalische Akustik zur Seite – vielleicht historisch nicht korrekt, doch hilfreich, diese Vertonung gut hörbar zu erleben. Der Passion sind noch zwei Geistliche Konzerte an die Seite gestellt («Die Erd ist des Herren» und «Lobet den Herren»), der Einführungstext im Booklet ist hingegen viel zu knapp ausgefallen.
Thomas Selle. Johannes-Passion mit Intermedien (1643)
Dantes Diwiak (Tenor), Johannes Euler (Altus), Janno Scheller (Bassus), Göttinger Barockchor, Göttinger Barockorchester, Antonius Adamske
Coviello Classics COV 92304 (2022)