In Hamburg standen ihm endlich an den Kirchen der Stadt wie auch mit der Ratsmusik exzellente Kräfte zur Verfügung. Von seinen zahlreichen Werken hat sich über fast 400 Jahre hinweg ein beträchtliches Korpus erhalten (ein Glücksfall!), darunter auch die Johannes-Passion von 1643. Sie steht vollkommen auf der Höhe ihrer Zeit, darüber hinaus hat Selle erstmals reflektierende Intermedien zwischen die einzelnen Teile eingeflochten und damit den Passionsbericht erweitert. Erstaunlich ist zudem die opulente Besetzung des Instrumentalensembles, bei dem (wie zeitüblich) einzelnen Personen und Soliloquenten bestimmte Instrumente und damit auch Farben zuordnet werden (dem Evangelisten die Gamben, Jesus die Violinen etc.). Auch scheint Selle über die neuen Entwicklungen in Italien informiert gewesen zu sein… Und so stellen sich (wie so oft) auch beim Hören mehr Fragen, als sich Antworten finden lassen. Der sehr unprätentiös gestalteten Interpretation steht eine fast schon kammermusikalische Akustik zur Seite – vielleicht historisch nicht korrekt, doch hilfreich, diese Vertonung gut hörbar zu erleben. Der Passion sind noch zwei Geistliche Konzerte an die Seite gestellt («Die Erd ist des Herren» und «Lobet den Herren»), der Einführungstext im Booklet ist hingegen viel zu knapp ausgefallen.
Thomas Selle. Johannes-Passion mit Intermedien (1643)
Dantes Diwiak (Tenor), Johannes Euler (Altus), Janno Scheller (Bassus), Göttinger Barockchor, Göttinger Barockorchester, Antonius Adamske
Coviello Classics COV 92304 (2022)