21. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Weinberg / Gidon Kremer

Weinberg / Gidon Kremer
Weinberg / Gidon Kremer
Schostakowitsch hielt Weinbergs Violinkonzert für ein «überragendes Werk im wahrsten Sinne des Wortes.» In der Tat handelt es sich nicht nur nach Umfang und Aufbau, sondern auch wegen der komponierten Ausdruckscharaktere um eine Partitur, die zeitloses Gewicht hat. Während der Sommerfrische 1959 ist sie auf einer Datscha in Nikolina Gora für den russischen Geiger Leonid Kogan entstanden, der das Werk 1961 unter Gennadi Roschdestwenski zur Uraufführung brachte – mit virtuoser Geste und einer unglaublichen Motorik im ersten Satz (wie man noch heute hören kann). 60 Jahre später mag man angesichts des nun vorliegenden Live-Mitschnitts eines Konzerts aus dem Leipziger Gewandhaus (Februar 2020) von einem inzwischen gealterten, grandiosen Missverständnis sprechen. Offenbar wollte und konnte Kogan all die Zwischentöne weder hören noch verstehen, die Weinberg einkomponiert hatte, und die nun Gidon Kremer als Solist zum Klingen bringt.

Gidon Kremer und mit ihm das Gewandhausorchester Leipzig unter der Leitung von Daniele Gatti nehmen etwa das Allegro molto des Kopfsatzes keineswegs «sehr schnell» im Sinne eines Tempos, sondern eher als Beschreibung von Ausdruck und Bewegungscharakter als «sehr munter». Überhastet wird hier nichts, und es wird damit auch wirklich nichts verloren. Im Gegenteil: das markante Hauptthema mit der dunklen Farbe der G-Saite gewinnt an Kontur, seine Gestalt wird greifbar – und man kann am Ende des Finales wirklich den zyklisch gestalteten Bogen nachvollziehen, ebenso die nun im letzten Augenblick vollzogene Dur-Aufhellung. Abgesehen vom angenehm kompakt eingefangenen Klang der Leipziger kann Kremer auch im Alter von 70+ weiterhin mit Kraft und Subtilität auftrumpfen – ganz so, als seien die vier Sätze des Werks erst für ihn und seinen sehnigen Ton geschrieben worden. – Mehr als nur eine kammermusikalische Zugabe stellt die Studioaufnahme der Sonate für zwei Violinen op. 69 dar. Gidon Kremer und Madara Pētersone (Konzertmeisterin der Kremerata Baltica) entfalten ihre Linien kongenial und in unverkennbarer Weise.

Mieczysław Weinberg. Violinkonzert op. 67 (1959), Sonate für zwei Violinen op. 69 (1959)
Gidon Kremer (Violine), Madara Pētersone (Violine), Gewandhausorchester Leipzig, Daniele Gatti

accentus ACC 30518 (2019/20)

HörBar

Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 1 von 5 in Michael Kubes HörBar #058 – Weinberg