Es ist ja schon an anderer Stelle kompetent über diese Platte gesprochen worden. Bei Jazzcity (Michael Rüsenberg) und in der Frankfurter Rundschau (Hans-Jürgen Linke) – auch zum eigenartigen Namen des Quartetts findet man da ausführlich Information, die man hier nicht wiederholen muss. Beide Rezesionen sind geradezu euphorisch. Das hat seinen guten Grund: Die Platte – zusammengestellt aus Liveaufnahmen vor kleinem Publikum in Köln – protzt geradezu von extremer Musikalität wie sie der Jazz nicht zu häufig findet, gerade wenn man sich in Randbereichen traditioneller Jazzsprachen bewegt, tatsächlich aber längst sich an Klanggestalten als Grundpfeilern livekompositorischer Arbeit orientiert.
Komischerweise wird die Aufnahme auf Bandcamp mit folgenden „Tags“ versehen: “berlin, jazz, experimental, gangsta funk, improv, independent, Berlin“. Berlin? Nicht der Ernst! “Gangsta Funk” finde ich dagegen allerliebst. Nach eigenem Bekenntnis kombiniere man “post-bop, cool jazz, 20th century chromaticism, avant-garde jazz, post-punk” – auch das passt, denn die improvisationstechnische Anlage hat mit Post-Bop in der Tat deutlich mehr zu tun als mit einer Begrifflichkeit, wie sie „free jazz“ nahelegen könnte. Man findet hier eine ausgeklügelte ästhetisch-technische Realisation auf Basis mehrschichtiger, multiperspektivischer Texturkonstruktionen. Heißt:
Da ist der Hauch von Variantenheterophonie wie im ersten Track (Layers) oder aber da sind die elektronischen Effekte der Mehrstimmigkeit von Stefan Karl Schmid in „Hold Your Breath“ (Track 7) im sich durchkreuzenden Duo mit Leonard Huhn – die zum Ende wie eine Sheng klingen, alles auf einer Passacaglia-ähnlichen Grundlage. Irrwitzig wie das im Zusammenspiel mit fluidem Schlagzeug (Fabian Arends) und geradezu fluffigem Basscontinuo (Stefan Schönegg) läuft.
Im Zusammenhang mit der Musik Morton Feldmans verwendete der Musikwissenschaftler Peter Böttinger den Begriff des „exakt Ungefähren“ – der bietet sich auch beim Verfolgen dieser Musik zum Verständnis an, nur das dies hier aus dem Zusammenhang der musikalischen Interpretation selbst ergibt, was Vermutungen über die Gestaltung der Kompositionen erahnen lässt. Das sind womöglich die feingesponnen, nahezu unsichtbaren Ketten, in denen das Ensemble sich bewegt und vermutlich die Umkehrung des Gedankens Böttingers noch mehr zuzulassen scheint, nämlich als einer Musik des „ungefähr Exakten“ oder der von „exakten Phantasie“. Das beeindruckt in jedem Fall.
Schmid’s Huhn: Layers (live) [2022]
- Stefan Karl Schmid – tenor saxophone, clarinet & effects
- Leonhard Huhn – alto saxophone, clarinet
- Stefan Schönegg – bass
- Fabian Arends – drums
Shoebill, SB 21018