Um den Titel dieses Doppelalbums zu verstehen, empfiehlt sich die Lektüre des Booklets. Mit den unter dem Motto «The Art of Life» versammelten Sätzen und Kompositionen möchte Daniil Trifonov nämlich einen Zugang zum Menschen Johann Sebastian Bach finden, ihm und seiner Zeit näherkommen. Der zu lesende Text ist freilich einer jener Essays, die seit einigen Jahren Einzug in derartige «Konzeptalben» gehalten haben: Entweder reflektieren dabei die Musiker:innen selbst ihre subjektive Sichtweise oder lassen einen versierten Autor antreten, der in seinen Text reichlich O-Töne hineinwebt. Das kann gelingen, muss aber nicht. Und so ist es auch hier: Trifonov diktiert seine Ansichten in die Feder des Verfassers – ganz so, als ob in den letzten Jahrzehnten (wenn nicht gar seit Forkels Biographie) keine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung stattgefunden hätte. Es muss hier aber auch der (durchaus interessante) Spagat gelingen zwischen dem strengen Aufbau der Kunst der Fuge und der eher persönlich gedeuteten Musik aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena und einzelnen Stücken der vier komponierenden Söhne. Dass von den 20 Kindern (S. 17) überhaupt nur die Hälfte überlebte und in das Erwachsenenalter eintrat, wird indes übergangen, der für Bachs Selbstsicht nicht hoch genug einzuschätzende Erdmann-Brief von 1730 findet mit keinem Wort Erwähnung.
Überhöht werden indes die kontrapunktischen Konzepte der Kunst der Fuge, die historisch doch eher lang entwickelte kompositionstechnische Verfahren am Ende einer Epoche in unvergleichlicher Weise kondensieren: Trifonov erkennt (auf der Suche nach den großen Zusammenhängen) in den Kanons eher die «Illustration einer Quantenverschränkung», in den Spiegelfugen eine «musikalische Beschreibung von Materie und Antimaterie», schließlich in den diminuierten Fugen eine «Analogie zur gravitativen Zeitdehnung und so weiter.» Natürlich eröffnet sich mit jedem Contrapunctus eine neue Welt – besonders in der Spannung zwischen abstrakter Kunst und interpretatorischer Deutung. Doch wer so hoch ansetzt, muss sich am Ende auch die Frage gefallen lassen, ob die betont romantische Deutung dieses Kompendiums zu den herangezogenen Bedingungen des Makro- und Mikrokosmos passen. Zwar steckt in der Heisenbergschen Unschärferelation eine ganz eigene Poetik, bei Trifonov geht es am Ende aber doch nur um eine «ergreifende Gefühlsreise». Entlarvt sich hier das Album? – Trifonov spielt jedenfalls im Geiste des ausgehenden 19. Jahrhunderts, nimmt sich der Fugen von einer emotionalen Seite aus an. Auch führt er den Contrapunctus XIV zu einem Schluss – aufführungspraktisch schön inszeniert durch den Wechsel ins una corda und den Gebrauch des Pedals, so dass diese Option wie aus dem Nebel zu einem spricht. Beinahe versöhnlich schließt die Produktion mit der bekannten Choralbearbeitung «Jesus bleibet meine Freude» – allerdings in einem stehenden Duktus, das diesen wundervollen Satz nur im Dienst der durchgehenden Dramaturgie sieht und somit verfremdet.
Bach: The Art of Life
Johann Christian Bach. Sonate A-Dur op. 17/5
Wilhelm Friedemann Bach. Polonaise e-Moll Fk 12/8
Carl Philipp Emanuel Bach. Rondo c-Moll Wq 59/4 (H 283)
Johann Christoph Friedrich Bach. Allegretto von variazioni («Ah, vous dirai-je, maman») Wf 12/2
Johann Sebastian Bach u.a. Auswahl von Stücken aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach
Johann Sebastian Bach / Johannes Brahms. Chaconne d-Moll BWV 1004
Johann Sebastian Bach. Kunst der Fuge BWV 1080
Johann Sebastian Bach. Jesus bleibet meine Freude BWV 147 (Arr. Myra Hess)
Daniil Trifonov (Klavier)
Deutsche Grammophon 483 8530 (2020/21)