Da haben wir’s beim genaueren Hinsehen: Bei einer Box, auf der werbewirksam «The New Complete Edition» steht, muss es (so darf man schließen) auch eine ältere Zusammenstellung geben. Und tatsächlich! Es ist noch nicht einmal sechs Jahre her, da hatte die Deutsche Grammophon bereits einen ähnlichen Quader auf den Markt geworfen. Wo aber liegen nun heute, im Gedenkjahr 2021, die Unterschiede zu jener Collection, die noch immer hie und da angeboten wird, sich weiterhin in den Tiefen der Label-Homepage finden lässt und dort offenbar bleibend mit den Worten «erstmalig sämtliche Werke in einer Edition» beworben wird? Schon im Jahr 2015 konnte man auf eine Fülle herausragender Einspielungen aus den zurückliegenden Jahrzehnten zurückgreifen – viele davon mit Referenzcharakter, andere als bedeutende Stationen der Interpretationsgeschichte. Was zu jenem Zeitpunkt noch aus dem Œuvre fehlte (es war ohnehin nur weniges), wurde neu produziert und integriert. Seither ist nur der wieder ans Tageslicht beförderte Chant funèbre op. 5 hinzugekommen; er findet sich hier auf CD 30 in der Einspielung mit dem Lucerne Festival Orchestra unter Riccardo Chailly – und ist auch in der aktuellen Chailly-Strawinsky-Box vorhanden.
Wenn nun aber alles andere nach sechs Jahren identisch ist (auch die Beiträge im Booklet wurden offenbar übernommen), so rechtfertigt dies keineswegs das vorangestellte «New». Der treue Sammler, der schon vor Jahren möglicherweise nur seine zahlreichen, über die Jahre zusammengetragenen Einzelalben komplettieren wollte, wird hier in seiner ganzen Aufmerksamkeit gefordert, um nicht aufs Glatteis geführt zu werden. Er hätte als Service eine Art Update verdient, zumindest aber einen genaueren Hinweis darauf, was sich nun wie überschneidet (etwa mit der Decca-Box, die noch andere Einspielungen bietet). Vermutlich hat sich unser Strawinsky-Liebhaber sowieso schon längst diese eine Novität voller Neugier angeschafft. – Mit einiger Sorge muss man sich also fragen: Für wen ist diese nur geringfügig erweiterte Neuauflage gedacht? War es möglicherweise allein die verlockende «50», die dazu anregte? Und warum gibt es nicht die Synopsen zu Oper und Ballett, die vor sechs Jahren noch als Download angeboten wurden? Hier sind also nicht nur offene Ohren gefragt, sondern auch der Griff zur Lupe …
The New Strawinsky Complete Edition
Boston Symphony Chamber Players, Bach Festival Choir, Mikhail Pletnev (Klavier), Olli Mustonen (Klavier), Vladimir Ashkenazy (Klavier), Anne-Sophie Mutter (Violine), Paul Sacher, Ensemble Intercontemporain, Choeur de Radio France, Trinity Boys Choir, English Bach Festival Chorus, English Bach Festival Orchestra, Schönberg Ensemble, Simon Preston (Orgel), Chicago Symphony Orchestra, Cleveland Orchestra, BBC Symphony Orchestra, London Sinfonietta, London Symphony Orchestra, Moscow Radio Symphony Orchestra, Royal Concertgebouw Orchestra, London Philharmonic Orchestra, Israel Philharmonic Orchestra, Orpheus Chamber Orchestra, Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Russian National Orchestra, Philharmonia Orchestra, Berliner Philharmoniker, Orchestre de Paris, Stuttgart Chamber Orchestra, Orchestre Philharmonique de Radio France, Monteverdi Choir, Christ Church Cathedral Choir, Oxford, Boston Symphony Orchestra, Netherlands Chamber Choir, Pierre Boulez, Riccardo Chailly, Claudio Abbado, Gennady Rozhdestvensky, Leonard Bernstein, James Levine, Oliver Knussen, Kent Nagano, Sir John Eliot Gardiner, Semyon Bychkov, Sir Charles Mackerras, Dennis Russell Davies, Reinbert de Leeuw, Robert Craft, Seiji Ozawa
DG 483 9962 (1972–2017 und 1935–1966)