21. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Travel Diaries

Time Diaries
Time Diaries
Reisetagebücher sind immer eine interessante Lektüre. Sie berichten über unerwartete Begegnungen, manchmal über böse Überraschungen, in der Regel aber auch über Dinge des Alltags, die sonst kaum einmal im Fokus stehen. Diese Umstände machen daher noch heute die Briefe von Wolfgang Amadeus Mozart an seinen Vater (aus München, Mannheim, Paris) besonders lesenswert – während in der Gegenwart wohl kaum noch jemand etwas festhält, da ja auch die mehr bildlichen «Statusmeldungen» nach 24 Stunden wieder gelöscht werden. Wie aber ein tönendes Tagebuch des Reisens aufzeichnen und festhalten? Das Münchner Goldmund Quartett hat für sich einen Weg mit diesem Album gefunden. Es vereint zeitgenössische Werke, die in den vergangenen Jahren in das Repertoire des Ensembles eingegangen sind, vielfach gespielt wurden und nun quasi eine eigene Geschichte erzählen.

Auf den ersten Blick mag man dabei die in den Travel Diaries versammelten Komponist:innen kaum zusammenbringen: Fazıl Say, Dobrinka Tabakova, Wolfgang Rihm, Ana Sokolović und Bryce Dessner. Sie stehen für ganz unterschiedliche Arten des Komponierens, der musikalischen Reflexion. Und vielleicht würden bei einer anderen Formation sich die hochgezogenen Augenbraunen nicht wieder so entspannt senken. Denn das Goldmund Quartett spielt die fünf Werke mit einem tiefen inneren Verständnis und einer feurigen Glut, die man selbst bei etablierten Formationen oft vergeblich sucht. Hier drückt sich mehr als nur «jugendlicher» Elan aus – man merkt den Gesten und Linien an, dass sie vielfach durchlebt wurden und nun an einem erfüllten Punkt einfach festgehalten wurden. Wie auch sonst würden Kompositionen wie Tabakovs The Smile of the Flamboyant Wings mit Dessners Aheym und dem Streichquartett Nr. 4 von Wolfgang Rihm zusammengehen? So finden sich hier ganz unterschiedliche Stilhöhen zusammen, die von einer unglaublich lebendigen, nie verkopft klingenden Interpretation getragen werden; Rihms Quartett überragt dabei alles andere – wie es in jedem Abonnement-Konzert auch ein später Beethoven tun würde. Aber genau das macht dieses Album so einmalig, so lebendig.

Travel Diaries. Fazıl Say. Streichquartett op. 29 «Divorce»; Dobrinka Tabakova. The Smile of the Flamboyant Wings (2016); Wolfgang Rihm. Streichquartett Nr. 4 (1980/81); Ana Sokolović. Commedia dell’arte III (2013); Bryce Dessner. Aheym (2019)
Goldmund Quartett

Berlin Classics 0301412 BC (2020)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 2 von 5 in Michael Kubes HörBar #068 – Auf Reisen