Die Produktion zeigt schlicht und ergreifend die faszinierende Offenheit von Müllers Versen in Schuberts unvergleichlicher Winterreise. Vielleicht mögen Puristen allein angesichts der Besetzung des Ensembles nach nur wenigen Zeilen bereits das Lesen dieser Rezension einstellen. Allerdings: entstanden ist hier eine in dieser Art einmalige Einspielung, mehr noch: eine Interpretation, die in sich von berückender Authentizität ist. Und ich lehne mich für einen Moment ganz weit aus dem Fenster: Hätte Schubert die recht eigenen Klänge und die Aufführungspraxis des aus dem weiten Osten kommenden Klezmer gekannt … wer weiß? Diese Einspielung erinnert mich unwillkürlich an Mikael Samuelssons Sicht (1998) auf Allan Petterssons Barfotasånger, die selbst schon auf die Winterreise Bezug nehmen. Kurzum erwartet einen in jedem der 24 Lieder eine Überraschung – ein Musizieren, das sich vom originalen Klaviersatz löst und wirklich neue Perspektiven eröffnet. Wenn etwa bei Irrlicht zunächst lediglich die Violine begleitet, der Sänger im Vorspiel pfeift – greifbarer kann das hier vertonte Elend kaum werden.
Dies betrifft auch den fahlen Frühlingstraum, bei dem die Not des Sängers wohl in dieser Weise noch nie so existenziell, noch nie mit so geringem instrumentalen Aufwand zum Klingen gebracht wurde. Es ist die Klezmer-Besetzung des Ensembles Le Chimera Project, die all dies möglich macht – das charakteristische Schluchzen der Klarinette, das harmonisch fundierende und doch so eigenständige Akkordeon, die frei gespielte Violine, an entscheidenden Stellen durch eine Posaune ergänzt. Fast gewinnt man den Eindruck, das Ensemble würde mit dem Sänger durch die Landschaft ziehen, seine Gesänge begleiten, seine Gefühle deuten und kommentieren. Die dabei mitunter auftretende Radikalität nimmt immer wieder gefangen: wenn etwa die Wetterfahne weitgehend allein von der Klarinette begleitet wird, ebenso wie die Krähe. Die anhaltenden Echo-Wirkungen machen die Täuschung greifbar, das Klavier kommt nur beim Wirtshaus zum Einsatz. Am Ende fügt sich der Zyklus auf recht eigene Weise: Wurde Gute Nacht zu Beginn noch rein instrumental dargeboten, so bildet es in einer Version mit Drehleier nach(!) dem Leiermann den eigentlichen, eigenwilligen Abschluss – oder auch den Beginn einer weiteren, nun eisigen Reise…
Auch wenn einige Passagen etwas gekünstelt wirken (also mehr komponierend arrangiert als improvisiert), so nimmt diese Einspielung einen alles andere als einfachen Weg. Philippe Sly singt dabei sehr überzeugend, insbesondere dann, wenn er mit seiner Stimme in den Ton eines Folksängers fällt. Dass an wenigen Stellen mal ein Vokal oder Konsonant nicht ganz richtig sitzen – geschenkt. Viel wichtiger: Sly beschönigt weder Text noch Subtext. Er fasst den Text an – und versteht es, diesen ohne plumpe Überredung schlicht erfahrbar zu machen.
Franz Schubert. Winterreise
Philippe Sly (Bass-Bariton), Le Chimera Project
Analekta AN 2 9138 (2018)