Eine weitere Wohltat und zugleich ein großer Wurf ist dieser Live-Mitschnitt eines Konzertes vom 15. Februar 2020 im Stadtgarten Köln – also kurz vor der durchdringenden gewaltigen und globalen Ruption durch die Corona-Pandemie. Logischerweise spielt die hier dann auch nicht hinein. Aber Engagement ist hier im Übermaß vorhanden, musikalisches wie auch gesellschaftliches, politisches.
Das zeigt sich sofort in der Aufmachung nämlich als 104 Seiten starkes Textbuch mit CD. Ausgangspunkt für dieses Projekt sei ein Satz des Bürgermeisters von Spremberg zum gewaltsamen Tod des algerischen Asylbewerbers Farid Guendoul gewesen: „Was hat der denn nachts noch auf der Strasse zu suchen.“ Für Sebastian Gramss Anlass, Konsequenzen zu ziehen: „Für jeden halbwegs wachen Menschen – also auch für uns Musiker und Künstler – wird es täglich klarer: Wir wollen, können, müssen gesellschaftlich Stellung beziehen und unsere Komfortzone, das Sofa, den Elfenbeinturm verlassen. Jede und jeder auf ihre/seine Weise. Irgendwie und Irgendwo. Irgendwann wäre zu spät.“ Das liest man so Textbuch, geschrieben im August 2021.
Die Frage ist, wird dieser hohe Anspruch eingelöst? Ja, das wird er, jedoch vor allem in ästhetischer Hinsicht. In 27 Tracks wird ein Panoptikum gegenwärtiger Krisenunterbewältigung angefasst: von den ökologischen, klimatischen, sozialen bis zu super- und supranationalen Krisen der Gegenwart. Sei es das Mikroplastik im Essen, Beleidigungen im Bereich der „Kommunikation“ in sozialen Netzen (hier bezogen auf Renate Künast als deren Opfer) – Verschwörungsgedusel …. Das Textbuch zeigt eine Mischung aus Information und Wildheit in der Gestaltung, risikoreich im Satz und ist dennoch grundsätzlich auf Vermittlung der Inhalte ausgelegt. Für die musikalische Performance gilt dies aber nicht weniger, aber anders. Auch ohne Textbuch kann man dem Textverlauf gut folgen.
Ist das ganze also eine Apotheose der Woke-Kultur; also gewissermaßen ein Elfenbeinturm, nur andersherum, nämlich in die Erde gerammt? Das alles ist nicht nur gut gemeint, es ist zudem auch tatsächlich gut gemacht. Das schnurrt nichts durch, da läuft nichts ab. Jedes einzelne Stück ist auch ein Stück musikalischer Materialkultur mit eigenem Charakter und die muss natürlich musikalisch professionell gestaltet und ausgeführt sein, zugleich aber krude und so reibungsaktiv bleiben wie nötig. Man hört keine bloße Belaberungsästhetik mit Improvisationsanteilen, die als Predigt gefällt und dann verläppert.
Ein bisschen elfenbeinern, oder ich würde eher sagen, elaboriert geht es trotzdem auch hier zu. Insgesamt resultiert aus den 27 Stücken ein Art Live-Hörstück, das artistisch bleiben muss. Denn Kunst jeder Form gibt es nicht ohne Form. Mit ihr kann man nicht künstlerisch die Lücken schließen, die die Wirklichkeit erzeugt. Das ästhetische Artefakt bringt hier Leid und Widersinn zum Ausdruck mit individueller Expression, die wie die Kompositionen selbst Transmissionen ihrer selbst sind.
Aber es gilt, diesem immanenten Problem aller Kunst nicht auszuweichen, sondern sich in voller Wucht zu stellen. Das wird zweifellos gemacht.
Sebastian Gramss’ Hard Boiled Wonderland | Music Resistance
Textbuch und CD
Besetzung:
- Tamara Lukasheva (Ukraine / D)
- Mariana Sadovska (Ukraine / D)
- Maximilian Hilbrandt (D)
- „Les Saxosythes“ – 13 member choir conducted by R. Lopez-Klingenfuss (D)
- Theresia Phillip – Saxophone, Reeds
- Lucas Leidinger – Keyboards, Piano
- Thomas Sauerborn – Drums
- Christian Lorenzen – Keyboards, Analog Electronics
- Sebastian Gramss – Double bass, Concept
- Rodrigo Lopez-Klingenfuss (ARG / D) – Guitar
- Special Guests:
- Sumudi Suaweera (Sri Lanka) – Drums, Percussion
- Helen Svoboda (Australia) – Double Bass, Voice
Rent a dog, rad 2021-2