25. April 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Josquin, the Undead

1. Josquin
Josquin, the Undead

Nachdem im 14. und 15. Jahrhundert zahlreiche Komponisten (die zugleich wohl auch immer Sänger waren) zusehends aus dem Dunkel der Namenlosigkeit getreten waren, bildete sich an der Wende zum 16. Jahrhundert um Josquin Desprez und sein Schaffen ein geradezu modern anmutender Kult. Sein für jene Zeit ungeheures Selbstbewusstsein – möglicherweise inszeniert, mit Sicherheit aber auf einer in ganz Europa anerkannten schöpferischen Potenz gründend – schreckte jedenfalls Herzog Ercole I. d’Este nicht, den offenbar Unbequemen nach dessen Bedingungen 1503 als Kapellmeister zu engagieren. Bereits ein Jahr später verließ Josquin jedoch schon wieder Ferrara, vermutlich mit Blick auf die aufziehende Pestepidemie (sein Nachfolger Jacob Obrecht verstarb an der Seuche 1505). Nach Josquins Tod am 27. August 1521 fiel seine Musik bald durch das Raster der Geschichte – zumal den meisten Zeitgenossen ein historisches Bewusstsein im späteren Sinne abging. Nicht erst zum 500. Todestag setzt nun eine Renaissance dieses einzigartigen Renaissance-Komponisten ein, doch sind in diesem Jahr sehr unterschiedliche Einspielungen (hinsichtlich Repertoire wie Aufführungspraxis) erschienen. Sie machen deutlich, was wir alles (nicht) wissen, und wie unterschiedlich die Deutungen ausfallen können. Ein letztes Wort wird absehbar nie gesagt werden…

Das in Antwerpen beheimatete Ensemble Graindelavoix hat diesen Umstand für eine auf den ersten Blick etwas eigenwillig anmutende Hommage genutzt. Es greift auf eine 1545 (also 24 Jahre nach Josquins Tod) erschienene Ausgabe von Chansons zurück, die Tielman Susato besorgte. Schon einige Zeit zuvor hatte der Verleger Georg Forster an anderer Stelle bemerkt, ein «bedeutender Mann» habe ihm gesagt, dass «Josquin jetzt, wo er tot ist, mehr Kompositionen produziert als zu seinen Lebzeiten». Das vorliegende Album versteht sich insofern als Dokument einer lebendigen Rezeption, indem nicht allein der posthume Druck als Quelle und Vorlage dient (und damit drei Lamenti anderer Komponisten einbezogen werden), sondern auch aufführungspraktisch ein eigener Weg beschritten wird: Laute und Cittern begleiten die Sänger, was selbst dem linearen Satz oft genug einen betont homophonen Charakter verleiht, zudem zeigt man keine Scheu vor Verzierungen oder mikrotonalen Bebungen. Die einzelnen Werke muten damit gelegentlich exotisch an oder sind gar mit einem leicht orientalischen Einschlag versehen; sie zeigen aber auf, welch’ interpretatorische Lesarten der alte Druck offeriert. Fragezeichen sind allerdings bei der Akustik zu setzen. Obwohl im großen Saal des Hauses der Fondazione Spinola Banna per l’Arte aufgenommen, mag man gleich zu Beginn bei Gomberts Musae Jovis dem allzu weiträumigen Hall nicht recht trauen. Die Chansons (auch die vielstimmigen) sind dann aber von jener Intimität, ohne die diese Gattung nicht zu denken ist.

Josquin, the Undead. Laments, deplorations and dances of death. Works by Josquin Desprez (c.1450–1521) included in Tielman Susato’s Septiesme livre (Antwerpen 1545). Musae Jovis (Nicolas Gombert); Baisiez moy; Parfons regretz; Cueur langoreulx; Faulte d’argent; Petite Camusette; Douleur me bat; N’esse pas un grant desplaisir; Si vous n’avez autre desir (Jean Le Brun); Nymphes des bois; O mors inevitabilis (Hieronymus Vinders); Se congie prens; Plusieurs regretz; Je me complains; Pour souhaitter; Nimphes, nappes; Regretz sans fin; Musae Jovis (Benedictus Appenzeller)
Graindelavoix, Björn Schmelzer
Glossa GCD P32117 (2021)

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