18. Oktober 2025 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Víkingur Ólafsson – from afar

Víkingur Ólafsson – from afar
Víkingur Ólafsson – from afar
Die Herausforderung bei heutigen Alben liegt vor allem in der Auswahl der eingespielten Werke. Bei der noch immer auf Tradition setzenden Deutsche Grammophon ist das ganz augenscheinlich. Da prangte auf dem Cover einst das alte goldgelbe Label mit Angaben zu Komponist, Werk und Interpreten. Dann wurde es zu einem Plakat für fett gedruckte Ware, aktuell verschwindet es vielfach in einer der vier Ecken. Mitunter fällt es abe auch schwer, die Fläche mit relevanten Meta-Daten (die im 20. Jahrhundert noch nicht so bezeichnet wurden) zu füllen – wie bei from afar (aus der Ferne) mit Víkingur Ólafsson. Denn mit nicht weniger als 22 bekannten wie unbekannten Einzel-Nummern setzt auch eine Form der Beliebigkeit ein. Aber möglicherweise bezieht sich der Titel auch nur auf die realisierte Klangästhetik.

Denn die Tongebung von Víkingur Ólafsson fordert nicht alle Parameter heraus. Vielmehr entwickelt sich ein klanglich-ökologisches Gleichgewicht, in dem so unterschiedliche Stücke wie Bach’sche Choralbearbeitungen, Brahms’sche Intermezzi, Mozarts Laudate Dominum, Volksliedadaptionen, Schumanns Träumerei und noch manch anderes mehr einen in sich ruhenden akustischen Fluss erzeugen. Abgerundete agogische Kanten und abgeschnittene dynamische Akzente führen zu einer ungewohnten Vereinheitlichung, einem nicht weiter selbständig aufbegehrenden Soundtrack für vermeintlich ruhige Stunden. Bei anderen Hörern dürfte eher die Nervosität steigen, so dekontaminiert und seicht erscheint hier ernste «Klassik». Offenbar gibt es einen Markt für derartige Produktionen. Noch verwunderlicher ist die Entscheidung, auf einer beigefügten zweiten CD das komplette Programm nochmals auf einem «upright piano» mitzuliefern. Ganz so, als ob nun jede und jeder dem Klang des eigenen Klaviers mehr Vertrauen schenken könnte. Sinn oder Unsinn – das ist hier die Frage.

from afar
Johann Sebastian Bach. Christe, du Lamm Gottes BWV 619, arr. György Kurtág; Robert Schumann. Studien für den Pedalflügel op. 56/1; Johann Sebastian Bach. Adagio, aus: Sonate Nr. 3 C-Dur für Violine solo BWV 1005, arr. Víkingur Ólafsson; György Kurtág. Harmonica (Hommage á Borsody László), A Voice in the Distance, Little Chorale I, Sleepily, Flowers We Are, Madaras, Scraps of a Colinda Melody – Faintly Recollected (Hommage à Farkas Ferenc), aus: Játékok; Béla Bartók. Ungarische Volkslieder aus dem Komitat Csík BB 45b, Sz. 35a; Johannes Brahms. Intermezzo E-Dur, Intermezzo e-Moll, aus: Fantasien op. 116/4+5; Snorri Sigfus Birgisson. Where Life and Death May Dwell, aus: Isländische Volkslieder (2005/06); Johann Sebastian Bach. Allegro moderato, aus: Triosonate Es-Dur BWV 525, arr. György Kurtág; Sigvaldi Kaldalós. Ave María; Wolfgang Amadeus Mozart. Laudate Dominum, aus: Vesperae solennes de confessore KV 339, arr. Víkingur Ólafsson; Robert Schumann. Träumerei, aus: Kinderszenen op. 15/7; Thomas Ades. The Branch; Robert Schumann. Vogel als Prophet, aus: Waldszenen op. 82/7
Víkingur Ólafsson (Klavier)

DGG 486 1681 (2022)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 5 von 5 in Michael Kubes HörBar #166 – Am Klavier

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