Auch eine rein digitale Produktion, aber mit den gewohnt fundierten Daten und mehr, selbst nachdem das Label CAvi vor kurzem unter das Dach eines «universellen» Grossisten gezogen ist. Der aber kann oder will über sein markantes gelbes Star-Label solch wundervolle Produktionen nicht vermarkten. Gut also, dass es weiterhin Nischen für Nischen gibt. Denn Brahms auf einem Blüthner-Flügel aus dem Jahre 1862 (einem «Salonflügel») klingt doch anders, als man es imKonzert oder dem Lautsprecher gewohnt ist. Massen wird man damit nicht begeistern können. Wer aber Ohren hat zum Hören, wir überrascht sein. Die Balladen des jungen Johannes Brahms klingen gar nicht mehr so gewichtig, die späten Charakterstücke irritieren durch ihre klangliche Zerbrechlichkeit.
Und mittendrin: drei Intermezzi von Jörg Widmann, der das 19. Jahrhundert ohnehin so berückend schöpferisch reflektiert, hier aber gleichsam durch den alten Flügel in die Vergangenheit reisen darf, um von dort aus gegenwärtig zu erscheinen. Ein Paradoxon? Keineswegs. Bei mir hinterlässt die Einspielung das Gefühl, dieser Musik (Brahms vor allem) noch einmal neu und anders begegnen zu können: unbelastet, von vorne und mit Neugier auf das, was in den nächsten Takten folgen wird. Denn «groß» klingt dieser alte Salon-Blüthner keineswegs – seine Fülle ist begrenzt, so dass die dynamischen Angaben in den Noten auch Angaben zum Charakter sind. Das Instrument klingt eher lyrisch, atmet und hält den Ton nicht ewig, hat aber einen sehr markanten Anschlag. Die Faszination, die Sheila Arnold an diesem Flügel ergriffen hat, überträgt sich auch im Streaming – vorausgesetzt, man widmet sich dieser Interpretation zu einer wirklich stillen Stunde. Eine Entdeckungsreise, deren zweiter Teil bereits angekündigt ist.
Johannes Brahms. Vier Balladen op. 10; Fantasien op. 116, Intermezzi op. 117; Jörg Widmann, Intermezzi für Klavier (Nr. 1, 2 und 4); Johann Sebastian Bach. Präludium E-Dur BWV 878
Sheila Arnold (Klavier)
CAvi Music 4866611 (2024)
- 72 Preludes / Mao Fujita
- Franz Schubert / Paul Lewis
- Hans Otte / Carlos Cipa
- Johannes Brahms / Sheila Arnold
- Ryūichi Sakamoto
Sehr schöner Hinweis. Danke!